Protest gegen Nazis in Berlin: Es fehlt an Masse und Militanz
Nahezu ungehemmt können die Rechten durch Berlins Straßen ziehen. Welch eine Blamage für die Zivilgesellschaft und die radikale Linke.
Nicht wenige von ihnen bleiben stehen, zeigen den Mittelfinger, lachen demonstrativ, beleidigen oder fotografieren. Dass es nicht zu körperlichen Übergriffen kommt, ist Glück. Erst als bereits zwei Drittel des Zuges vorüber sind, stellt sich eine Handvoll Polizisten zwischen die Gruppen.
Kurze darauf haben die Rechtsextremen das Ziel ihrer fünften „Merkel muss weg“-Demo erreicht – nach einem laut Polizeijargon „nahezu störungsfreien Verlauf“. Unter ungläubigen Blicken erschrockener Passanten singen sie noch „Deutschland, Deutschland über alles“. Geht man davon aus, dass Demonstrationen dazu dienen, sich seiner eigenen Stärke zu versichern, können die Rechten mit breitem Kreuz von dannen ziehen. „Wir kommen wieder“, grölen sie zum Abschied.
Das, was Berlin am Samstag erlebt hat, ist eine Blamage für die Zivilgesellschaft und erst recht für die antifaschistische Szene. Nirgendwo sonst in Deutschland – von den Pegida-Aufmärschen in Dresden abgesehen – können so viele Nazis ungestört durch die Straßen ziehen wie in Berlin, Hauptstadt der Linken und Alternativen.
Mehr ist möglich
Gerade einmal 1.000 Antifaschisten waren am Samstag unterwegs. Entspannt zogen sie zum Hauptbahnhof. Dort nervten sie die Rechten zwar mit ihrer Lautstärke, deren Demonstration hatten sie aber nichts entgegenzusetzen. Möglich wäre einiges gewesen.
Spätestens nach der Friedrichstraße stellten Polizeiabsperrungen kaum noch ein Hindernis dar, um auf die Strecke zu kommen. Am einzigen Blockadeversuch auf der mehreren Kilometer langen Route beteiligten sich nur 20 Menschen. Ein mutiges, nicht ungefährliches Unterfangen ist es für die wenigen, die nicht einfach kapitulieren wollen.
Derweil rüstet sich in Köln gerade eine ganze Stadt für den Protest gegen den AfD-Parteitag im April, in Würzburg standen kürzlich 150 Rechte 20-mal so vielen Gegnern gegenüber, und wenn übernächsten Samstag Nazis in Leipzig auflaufen wollen, muss sich die Polizei für einen Großkampftag rüsten. Einen störungsfreien Verlauf wird sie dennoch nicht garantieren können angesichts der zu erwartenden Tausenden Demonstranten, von denen einige auch die Konfrontation nicht scheuen.
Dem Gegenprotest in Berlin fehlt es derzeit an beiden zentralen Momenten: der Masse – und der Bereitschaft zur Militanz. Tausende Menschen in Sitzblockaden wären dabei das beste Signal. Einige hundert, die für Unruhe sorgen, die Polizei beschäftigen, ja auch Barrikaden bauen, können den Zweck aber ebenso erfüllen. Solange die Aktionen zielgerichtet der Verhinderung des Aufmarschs dienen, lässt sich die nachfolgende Gewaltdebatte auch aushalten. Das Ziel, den Nazis ihre Stärke zu nehmen, heiligt einige Mittel. Erst recht beim größten Aufmarsch, den die Stadt gerade hat.
Raus aus den Kiezen!
Wirklich mobilisieren lässt sich die linke Szene nur noch in ihren Kiezen. Als im April 2014 ein Häuflein NPDler nach Kreuzberg wollte, stellten sich ihnen Tausende entgegen. Die Lage war so unübersichtlich und unruhig, dass die Polizei es erst gar nicht darauf ankommen ließ, den Weg frei zu räumen. NPD, Kreuzberg, Widerstand – diese assoziative Kette funktioniert. „Besorgte Bürger“, „Merkel muss weg“, Mitte – da regt sich nahezu nichts.
Den Rechten ist es letztlich egal, wo sie ihre Erfolge feiern oder unter welchem Motto. Wenn man sie gewähren lässt, weil der Stempel ihrer Veranstaltung nicht radikal genug, der Ort zu weit weg vom eigenen Lebensumfeld ist, hat man sich in die Irre führen lassen.
Berlins linksradikale Szene hat an Stärke verloren, eine zentrale Antifa-Gruppe fehlt, die Jugendarbeit liegt brach. Das mag alles stimmen. Wer sich aber an einem Samstagabend in den linksalternativen Projekten von Köpi bis Mensch Meier umschaut, der weiß, dass es im Grunde nicht an Potenzial mangelt. Aber Leute: Gründe zum Feiern muss man sich erarbeiten.
40.000 mal Danke!
40.000 Menschen beteiligen sich bei taz zahl ich – weil unabhängiger, kritischer Journalismus in diesen Zeiten gebraucht wird. Weil es die taz braucht. Dafür möchten wir uns herzlich bedanken! Ihre Solidarität sorgt dafür, dass taz.de für alle frei zugänglich bleibt. Denn wir verstehen Journalismus nicht nur als Ware, sondern als öffentliches Gut. Was uns besonders macht? Sie, unsere Leser*innen. Sie wissen: Zahlen muss niemand, aber guter Journalismus hat seinen Preis. Und immer mehr machen mit und entscheiden sich für eine freiwillige Unterstützung der taz! Dieser Schub trägt uns gemeinsam in die Zukunft. Wir suchen auch weiterhin Unterstützung: suchen wir auch weiterhin Ihre Unterstützung. Setzen auch Sie jetzt ein Zeichen für kritischen Journalismus – schon mit 5 Euro im Monat! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
„Edgy sein“ im Wahlkampf
Wenn eine Wahl als Tanz am Abgrund verkauft wird
Denkwürdige Sicherheitskonferenz
Europa braucht jetzt Alternativen zu den USA
Tabubruch der CDU
Einst eine Partei mit Werten
Erpressungs-Diplomatie
Wenn der Golf von Mexiko von der Landkarte verschwindet
Tod von Gerhart Baum
Einsamer Rufer in der FDP-Wüste
Jugendliche in Deutschland
Rechtssein zum Dazugehören