Projekt gegen spekulativen Leerstand: Ein Zuhause auf Abruf
Zweimal haben Obdachlose ein leerstehendes Haus in Berlin-Mitte besetzt. Der Bezirk hat mit dem Eigentümer eine Zwischennutzung vereinbart.
S eit acht Jahren habe ich das erste Mal ein Dach über dem Kopf“, sagt Tina. Die 26-Jährige sitzt in ihrer Einzimmerwohnung in Berlin-Mitte, mit direktem Blick auf das riesige Betongebäude des Bundesnachrichtendienstes, und kann ihr neues Glück kaum fassen. „Jetzt ist alles viel einfacher, ich kann mich waschen und kochen, es ist warm, ich habe mein eigenes Bett, meine eigenen vier Wände.“
Tina ist eine von 39 Obdachlosen, die in den letzten Wochen in den seit mehreren Jahren größtenteils leer stehenden Plattenbau in der Habersaathstraße eingezogen sind, zehn weitere sollen noch folgen. Nach zwei vorangegangenen Besetzungen des fünfstöckigen Gebäudes mit seinen 106 Wohnungen im Oktober 2020 und im Dezember 2021 durch Obdachlose und Aktivist*innen der Initiative „Leerstand Hab-ich-saath“ hatte der grüne Bezirksbürgermeister von Mitte, Stephan von Dassel, im Dezember vergangenen Jahres mit der Eigentümerin Arcadia Estates eine Zwischennutzung vereinbart – ein bundesweit bislang einmaliger Vorgang.
Zwei Wochen lang beseitigten die Aktivist*innen auf eigene Faust alle Brandschutzmängel, bauten Rauchmelder ein und reparierten die Türen, die bei der Räumung der ersten Besetzung durch die Polizei beschädigt worden waren. Anfang des Jahres stand dem Einzug der Obdachlosen dann nichts mehr im Weg.
„Wir haben endlich ein Zuhause“ steht auf einem der Transparente, die aus den Fenstern des besetzten Wohnriegels hängen. Die Wohnungen des ehemaligen Schwesternheims sind größtenteils in gutem Zustand, der Laminatboden sieht aus wie frisch verlegt, die Räume sind hell und sauber, es gibt ein Bett, ein Sofa, einen kleinen Fernseher und eine kleine Küche, in einigen Zimmern hängen Bilderrahmen mit Blümchenmotiven.
Das meiste ist noch von den Vormieter*innen, vieles wurde gespendet. Für die Obdachlosen absoluter Luxus. „Das war wirklich meine letzte Rettung“, sagt Tina und dreht sich eine Zigarette, den Tabak nimmt sie aus einem Stoffbeutel. Vor ihr auf dem Tisch steht eine Flasche Berliner Kindl.
Bis vor vier Wochen hat sie noch mit ihrem Freund und ihren zwei Schäferhunden unter einer Brücke an der Schönhauser Allee in Prenzlauer Berg geschlafen. Der Kälte hatten sie außer ein paar Schlafsäcken und alten Matratzen nichts entgegenzusetzen, in eine offizielle Obdachlosenunterkunft wollten sie trotzdem nicht. „Mit den Hunden ist es schwer, einen Platz zu finden, außerdem wird viel geklaut und man wird am nächsten Morgen früh wieder rausgeschmissen“, erzählt die gebürtige Österreicherin, die sich ihren Lebensunterhalt mit Jonglieren an Ampeln verdient.
Also machte sie lieber Platte, wechselte regelmäßig die Orte, an denen sie draußen schlief, den Rucksack mit all ihren Habseligkeiten immer dabei. Sie ist froh, dass diese schwere Zeit jetzt erst mal hinter ihr liegt. „Ich kann viel besser schlafen und meine Rückenschmerzen vom vielen Tragen sind auch weg.“
Auch José ist froh, nun endlich eine eigene Wohnung zu haben. „Es gibt zwar noch kein warmes Wasser, aber alles ist besser, als bei der Kälte im Zelt zu sitzen“, sagt er und streichelt seinen riesigen Hund, der noch mehr Dreadlocks hat als er selbst. Vor anderthalb Jahren ist José aus Bayern nach Berlin gekommen, fand keine Wohnung und zog in das ehemalige Obdachlosencamp an der Rummelsburger Bucht im Bezirk Lichtenberg.
Nachdem der Bezirk die Zeltstadt mit ihren rund 100 Bewohner*innen vor einem Jahr in einer Nacht- und Nebelaktion räumen ließ, wurden die Obdachlosen zunächst in einem Hostel untergebracht. Nach ein paar Monaten endete das Angebot und José zog mit seinem Zelt in einen Wald in Tegel. Auch er will auf keinen Fall in eine Sammelunterkunft. „Nicht nur wegen dem Hund, ich habe Angst, beklaut zu werden und mich durch den fehlenden Abstand mit Corona anzustecken“, sagt er. Damit sei er nicht allein: „Viele bleiben aus Angst vor Ansteckung lieber auf der Straße.“
Soziale Beratung im Erdgeschoss
In der Habersaathstraße können die Obdachlosen nun in ihren eigenen vier Wänden zur Ruhe kommen. In einer der Wohnungen im Erdgeschoss hat der Sozialträger „Neue Chance“ ein Büro eingerichtet. „Wir bieten alles an, was die Bewohner*innen brauchen“, erzählt Sozialarbeiterin Maike Rainers später am Telefon. Ob es um Hilfe mit dem Jobcenter geht, medizinische Versorgung oder Finanzfragen, das fünfköpfige Team der „Neuen Chance“ ist von montags bis freitags ansprechbar.
„Das Ziel ist, den Menschen eine Perspektive zu geben, damit sie dauerhaft in eigenen Wohnraum kommen.“ Bisher würde das von den Obdachlosen gut angenommen. „Der Zugang ist leichter und niedrigschwelliger“, findet Rainers. Finanziert wird das Projekt vom Bezirk Mitte, wie lange ist unklar. „Wir bleiben so lange wie die Obdachlosen hier sind“, sagt Rainers zuversichtlich.
Wie lange das sein wird, ist allerdings ungewiss. Die Arcadia Estates will den Gebäudekomplex aus den 1980er Jahren abreißen lassen. 2006 hatte das Land Berlin die Immobilie für zwei Millionen Euro verkauft, der neue Eigentümer verkaufte sie 2017 für das Zehnfache weiter an die Arcadia Estates, die auf dem Grundstück Luxuswohnungen errichten will. Das Bezirksamt sieht darin jedoch eine Zweckentfremdung von „schützenswertem Wohnraum“ und verweigert die Abrissgenehmigung. Die Bezirksverordnetenversammlung hat sich bereits mehrfach für eine Beschlagnahme des Gebäudes ausgesprochen.
Auch nach monatelangen Verhandlungen zwischen Bezirk und Eigentümer kam bislang keine Einigung zustande. Gemäß dem Berliner Zweckentfremdungsverbot müsste die Arcadia Estates bei einem Abriss Ersatzwohnraum zu maximal 7,92 Euro netto kalt pro Quadratmeter schaffen. Die Immobilienfirma hält 7,92 Euro jedoch für nicht wirtschaftlich und will nur einen kleinen Teil des geplanten Neubaus zu günstigen Konditionen vermieten. Weil es zu keinem Vergleich kam, liegt der Fall zurzeit vor dem Berliner Oberverwaltungsgericht, nachdem in erster Instanz zugunsten des Immobilieninvestors entschieden wurde.
So lange wollten die Aktivist*innen der Initiative „Leerstand Hab-ich-saath“ nicht warten. Statt zur Beschlagnahme kam es zur Besetzung. Vergangene Woche schloss das Bezirksamt mit dem Eigentümer eine Vereinbarung zur temporären Nutzung von geeigneten Wohnungen durch obdachlose Menschen ab. „Diese ist erst mal bis zum 15. April 2022 befristet, wir hoffen auf eine Verlängerung bis zur Verwertung – komplette Sanierung oder Abriss und Neubau“, so ein Sprecher. Für die Unterbringung der obdachlosen Menschen werde vonseiten des Eigentümers keine Miete erhoben, jedoch eine Betriebskostenpauschale, die durch die Bewohner*innen erstattet werden müsse.
Die Aktivist*innen der Initiative und die Bewohner*innen trauen der ganzen Sache nicht. „Ich befürchte, dass hier ein schmutziger Deal abgeschlossen wird: Abrissgenehmigung gegen Zwischennutzung“, sagt Daniel Diekmann, der Vorsitzende des Mieterrats. Der 54-Jährige ist einer der verbliebenen zwölf Altmieter*innen in dem Gebäude und kämpft seit 15 Jahren gegen die Vernachlässigung und den Leerstand des Plattenbaus. 2018 wurde am helllichten Tag ein Brandanschlag auf sein Auto verübt – ein Einschüchterungsversuch, glaubt Diekmann.
30.000 Euro habe man ihm für seinen Auszug geboten. Sein Mietvertrag ist unbefristet, für seine Zweizimmerwohnung zahlt er rund 300 Euro pro Monat – vergleichbare Wohnungen in der Lage kosten locker das Drei- bis Vierfache.
Berlin-Mitte ist geprägt durch Galerien und teure Restaurants und steht schon seit Jahren wie kaum ein anderer Bezirk in Berlin für Verdrängung durch Luxussanierungen und explodierende Mieten. „Da wären die 30.000 Euro schnell weg“, glaubt Diekmann. Er freut sich, dass mit den Obdachlosen wieder Leben in die Bude kommt. Die meisten der alten Mieter*innen würden das ähnlich sehen. „Natürlich gibt es auch einige, die das kritisch sehen und Angst vor Verwahrlosung haben, bisher läuft es jedoch erstaunlich gut.“
Eine Einschätzung, die Valentina Hauser von der Initiative „Leerstand Hab-ich-saath“ teilt. „Ich bin überrascht, wie konstruktiv das hier läuft und wie gut die Zusammenarbeit klappt“, sagt sie der taz. „Natürlich gibt es Streit, bisher konnte der jedoch gut gelöst werden.“ Einmal die Woche gebe es ein Hausplenum, wo die Bewohner*innen ihre Konflikte klären, etwa Beschwerden wegen der Lautstärke.
Im Erdgeschoss gibt es ein Kiezbüro, das als Treffpunkt genutzt wird. Die Obdachlosen hätten schon viele Ideen, was sie in dem Gebäude alles verwirklichen wollen, eine Fahrradwerkstatt etwa oder Schließfächer, in denen Menschen, die auf der Straße leben, ihr Hab und Gut sicher verstauen können.
Tina erzählt, dass sie bisher nur positive Erfahrungen gemacht habe – sowohl mit den alten als auch mit den neuen Nachbar*innen. „Der Zusammenhalt ist der Wahnsinn“, sagt sie. „Die Leute gehen respektvoll miteinander um und helfen sich gegenseitig. Ich habe auch schon ein paar Freunde gefunden.“ Was sie macht, wenn das Haus abgerissen wird und die Obdachlosen rausmüssen? „Dann gehe ich zurück auf die Straße. Als Obdachlose mit Hunden und ohne Einkommen ist es für mich unmöglich, eine Wohnung zu finden.“
Kein Deal „Abriss gegen Unterbringung“
„Einen Deal ‚Unterbringung von obdachlosen Menschen gegen Abrissgenehmigung‘ hat es nicht gegeben und wird es nicht geben“, versichert das Bezirksamt. Angesichts des unsicheren Ausgangs des Gerichtsverfahrens strebe man allerdings ein Gesamtpaket an, „das einen Abriss enthalten dürfte, sofern im Gegenzug viel preisgünstiger Wohnraum entsteht.“ Für die Obdachlosen keine gute Nachricht. „Manche leben schon seit Ewigkeiten auf der Straße und bauen sich jetzt hier etwas auf. Das ist ihre einzige Chance. Die stehen so schnell nicht mehr auf, wenn das hier geräumt wird“, sagt Tina.
So weit wollen es die Aktivist*innen nicht kommen lassen. „Der nächste Kampf ist, den Abriss zu verhindern“, sagt Valentina Hauser. Sie sieht auch den Senat in der Pflicht, es gar nicht erst zur Räumung kommen zu lassen. Um Berlins neue Sozialsenatorin Katja Kipping (Linke) ist es beim Thema Habersaathstraße jedoch auffällig still. „Ich habe die Initiative der Aktivist*innen, obdachlose Menschen zumindest temporär mit Wohnraum zu versorgen und den Leerstand von Wohnraum zu beenden, mit Interesse und Freude verfolgt“, sagt sie auf taz-Nachfrage.
Könnte die Nutzung von spekulativem Leerstand also ein Modellprojekt im Kampf gegen Obdachlosigkeit werden, die in der Hauptstadt nach dem Willen der rot-grün-roten Koalition bis zum Jahr 2030 beendet werden soll? „Es würde mich freuen, wenn daraus ein Modellprojekt würde“, so Bezirksbürgermeister Stephan von Dassel, es sei jedoch eher unwahrscheinlich, dass sich in Mitte vergleichbare Objekte fänden.
Die Senatssozialverwaltung setzt nach eigenen Angaben weiter auf Housing First, also die bedingungslose Vermittlung von Wohnungen an Obdachlose, ein Modell, das Kipping „erweitern und verstetigen“ möchte. 79 Menschen haben darüber in den vergangenen drei Jahren eine eigene Wohnung gefunden – bei offiziell 2.000 Obdachlosen in Berlin würde es bei dem Tempo mehr als 75 Jahre dauern, die Menschen von der Straße zu holen.
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