Professorin über Gender-Studies-Verbote: „Ein Angriff auf die Demokratie“
Das Studienfach Gender Studies gerät europaweit immer stärker in die Kritik. In Ungarn ließ Viktor Orbán es dieses Jahr verbieten.
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taz: Frau Pető, wie haben Sie das Verbot der Gender Studies erlebt?
Andrea Pető: Vor dem Verbot haben Gender-WissenschaftlerInnen unbeobachtet und zum Teil marginalisiert gearbeitet. Sie hockten in Büros in Kellern oder im Dachgeschoss. Dann kamen die Kampagne und der Bann der Regierung, und plötzlich waren alle UngarInnen ExpertInnen in Sachen Gender Studies. Jede und jeder hat eine Meinung zu den Literaturlisten der Universitäten oder zu Möglichkeiten der AbsolventInnen auf dem Arbeitsmarkt. Gleichzeitig hat der jüngste Streik an den Universitäten ELTE, Corvinus und CEU gezeigt, dass die Gender Studies dabei sind, Mainstream zu werden. Im November hatten ProfessorInnen und DozentInnen ihre Seminare als eine Form von Protest gehalten: Sie haben über die Gender-Dimension ihrer Fächer gesprochen. Das wäre nicht passiert, wenn die Regierung die Gender Studies nicht verbannt hätte. Die Attacken auf die Gender Studies eröffnen auch neue Möglichkeiten.
Kommen die Studierenden noch?
In den letzten Jahren ist die Anzahl der Bewerbungen für die Gender Studies gestiegen. Das Gefühl, etwas „Cooles“ zu studieren, hat mehr StudentInnen an die CEU gebracht. StudentInnen und die Fakultät wissen, was sie tun und dass das, was sie tun, wichtig ist. Die Situation führt dazu, dass über Dinge gesprochen wird, die wichtig sind: Es gibt großes Interesse an neuen Ideen, Emotionen und Fakten. Ich betrachte das als große berufliche Möglichkeit. Doch zugleich ist das akademische Leben für WissenschaftlerInnen sehr ernst geworden.
Organisieren Sie sich als WissenschaftlerInnen?
Die Gender Studies wurden Anfang der 2000er Jahre in Europa erfolgreich institutionalisiert: Nationale Gender Studies Associations haben sich gebildet, ebenso die Dachorganisation AtGender, deren Co-Vorsitzende ich eine Weile war. Das ist einer der Gründe, warum die Mobilisierung schnell und effektiv war, als die Gender Studies aus Ungarn verbannt wurden: 120 internationale Master-Programme haben Protestbriefe an die ungarische Regierung und den Regierungschef geschrieben, ebenso viele RektorInnenkonferenzen.
Wie wird es für die Gender Studies im Land weitergehen?
Am 18.12. findet der deutschlandweite Aktionstag für Gender Studies statt, der vor allem in den sozialen Medien (unter #4GenderStudies) für Geschlechtergerechtigkeit und Wissenschaftsfreiheit eintreten will.
Es wird interessant, zu verfolgen, wie die EU zusammen mit den jeweiligen KommissarInnen auf die Verletzungen der akademischen Freiheit reagiert. Die Regierung hat die Lizenz des zweijährigen Studienprogramms der Gender Studies aufgehoben, ohne die Meinung professioneller Institutionen einzuholen. Aber die Gender-Studies-Programme der CEU sind von den USA akkreditiert. In den letzten Jahren hat die ungarische Regierung die Menschenrechte von einem universellen Konzept hin zu einem Privileg einer bestimmten Gruppe neu definiert. Wissenschaft zu betreiben ist ein Menschenrecht. Die Tatsache, dass die ungarische Regierung ohne Rücksprache mit Berufsverbänden die Studienlizenz eines Bildungsprogramms widerrufen hat, ist eine Verletzung der Menschenrechte.
Anfang Dezember kündigte die CEU an, wegen des Drucks der Regierung im September nach Wien zu ziehen. Gehen Sie selbst mit?
Ja, ich arbeite seit 1991 für die CEU, damals war ich erst die vierte Angestellte. Die Universität hat sich von einem winzigen Büro zur besten des Landes entwickelt. Ich nutze die Chance, weiter an ihr zu arbeiten.
Sie beschreiben Gender als symbolischen Kitt, den Rechte nutzen, um gesellschaftliche Bereiche wie den konservativen Mainstream oder auch die Kirche zu erreichen. Ist es das, was Sie in Ungarn momentan beobachten?
Der Ausdruck „symbolischer Kitt“ bezieht sich auf eine Metapher, die in der Lage ist, die Gefühle von Menschen anzusprechen – zum Beispiel Unsicherheit über die Welt um sie herum – und sie in Richtung identitärer Belange zu lenken. Dabei ist Gender auf viele Arten symbolischer Kitt: Erstens konstruiert die Anti-Gender-Bewegung eine Dynamik, mit der die Vorstellung von Gender als etwas Bedrohliches wahrgenommen wird. Das Konzept von „Genderideologie“ soll das Scheitern demokratischer Repräsentation kennzeichnen und bestimmte Aspekte der sozialen und ökonomischen Ordnung zurückweisen, etwa die Schwächung von sozialer, kultureller oder politischer Sicherheit.
Und zweitens?
Zweitens ist die Dämonisierung der „Genderideologie“ ein rhetorisches Schlüsselwerkzeug, um für ein breiteres Publikum eine neue Übereinkunft zu schaffen, was normal und legitim ist. Die Weltsicht der „Genderideologen“ wird dämonisiert. Das Paradigma der Menschenrechte und der progressiven Tradition der Gleichheit, das in Europa und Nordamerika lange relativer Konsens war, wird zurückgewiesen. Gleichzeitig verspricht die Rechte eine lebbare, praktikable Alternative, die auf dem Konzept von Familie, Nation und religiösen Werten basiert und eine sichere Gemeinschaft als Heilmittel für Individualismus und soziale Vereinzelung bietet. Und drittens ist die Opposition zu Gender auch eine Möglichkeit für die Rechte, eine breite Allianz verschiedener AkteurInnen zu schmieden, die in der Vergangenheit nicht unbedingt scharf darauf waren, zu kooperieren. Gender ist also symbolischer Kitt, um verschiedene religiöse und politische Kräfte zusammenzubinden, von fundamentalistischen Gruppen bis hin zu Fußballhooligans in manchen Ländern wie Polen.
Woher kommt diese Dämonisierung?
Die Angriffe auf die Gleichstellung der Geschlechter oder die Anti-Gender-Bewegung sind nicht nur Ableger eines jahrhundertealten Antifeminismus, sondern auch ein grundlegend neues Phänomen: Sie sind ein Angriff auf den Liberalismus und damit indirekt auf die Demokratie. Liberalismus und Demokratie sind seit der Aufklärung miteinander verflochten. Wenn ein Politiker behauptet, dass die einzige Bestimmung der Frau die ist, Kinder zu bekommen, ist das nicht einfach eine konservative Reaktion auf die 68er. Die Anti-Gender-Bewegung ist eine nationalistische, neokonservative Antwort auf die Krise der globalen neoliberalen Weltordnung. Sie will, im gramscianischen Sinne, eine neue Weltordnung schaffen. Deshalb sollte sie alle Menschen interessieren, die sich für Menschenrechte und Demokratie einsetzen – nicht nur GenderforscherInnen.
Wie würden Sie die Situation von Frauen in Ungarn beschreiben?
Das Konzept: RechtspopulistInnen in der EU bekämpfen transnational das liberale Europa. Ihre Agenda, Strategien und Netzwerke dokumentieren die taz und Partnermedien im Rechercherverbund Europe’s Far Right.
Die Mitstreiter: taz, Libération (Paris), Falter (Wien), Gazeta Wyborcza (Warschau), HVG (Budapest), Internationale (Rom), WOZ (Zürich).
Das Geld: Gefördert durch das Kartographen-Stipendium der Mercator-Stiftung, das „Reporters in the Field“-Stipendium der Bosch-Stiftung, die Otto Brenner und taz Panter Stiftung.
Mehr unter taz.de/efr
Meine größte Angst ist, dass Frauen Hilflosigkeit verinnerlichen, dass sie müde, erschöpft und depressiv sind. Die Politik konzentriert sich gerade nicht auf Individuen, sondern auf die Familie. Nun wird in Ungarn oder auch in Polen derzeit das Konzept der Frau durch das Konzept der Familie ersetzt. Frauen als diejenigen, die unabhängig agieren, verschwinden langsam aus politischen Übereinkünften. Was bleibt, ist das Konzept der Familie. Vor Ort polarisiert sich die Gesellschaft weiter, und die Frauen, von denen erwartet wird, unbezahlte Care-Arbeit zu leisten, sind am erschöpftesten und am leichtesten verletzbar.
Importiert Ungarn dafür antifeministische Ideen von ganz rechts?
Ungarn ist ein Labor. Was hier funktioniert, werden andere illiberale Kräfte nachmachen. KollegInnen, die belgische rechtsextreme Gruppen beobachten, erwähnten, dass diese über Ungarn und das Gender-Studies-Verbot posten und hoffen, Vokabular und Know-how selbst anwenden zu können. Flämische Studierende haben Ungarn besucht und Premierminister Orbán getroffen. Die Studierenden haben sofort einen Brief an den Rektor der Universität Gent geschrieben, er solle das Master-Programm der Gender Studies stoppen. Es gibt eine transnationale Bewegung, die geschickt Toolkit und Framing verwendet, die in einem Land funktionieren, um in anderen Ländern dasselbe zu machen. Deshalb sollte auch die Antwort transnational und innovativ sein. WissenschaftlerInnen sollten aufhören zu glauben, dass sie im hegemonialen Kampf um die Frage, was Wissenschaft ist, einfach dadurch geschützt seien, dass sie mit dem weitermachen, was sie auch zuvor gemacht haben. Sie müssen anfangen, sich zu organisieren, und das nutzen, was sie noch haben: Institutionen, Netzwerke und moralische Kraft.
Aus dem Englischen übersetzt von Patricia Hecht
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