Pro Bahn-Sprecher über Niedersachsen: „Heruntergewirtschaftete Strecken“
Niedersachsen will stillgelegte Bahntrassen reaktivieren, ist aber zögerlich. Pro Bahn-Landesvorsitzender Malte Diehl fordert mehr Geld für die Schiene.
taz: Warum ist man in Niedersachsen so zögerlich, Bahnstrecken zu reaktivieren, Herr Diehl? Die Vorteile liegen ja eigentlich auf der Hand.
Malte Diehl: Die amtierende Landesregierung hat da keinen großen Ehrgeiz an den Tag gelegt und sich mehr darum gekümmert, das Thema Elektromobilität bei Pkws voranzutreiben. Wahrscheinlich mit Blick auf VW, der der größte Arbeitgeber im Land ist. Man hat versucht, den Wasserstoff-Triebwagen zu pushen, aber alles, was mit Reaktivierung zu tun hat oder mit Streckenneubauten, stand nicht auf der Agenda. Das sieht man auch daran, dass die Landesregierung sich nach wie vor dagegen sperrt, über eine Neubaustrecke zwischen Hamburg und Hannover oder zwischen Hannover und Bielefeld auch nur zu diskutieren.
Da ist man im Wahlkampf in Niedersachsen natürlich sehr vorsichtig, nachdem der Widerstand gegen den Bau der Y-Trasse in der Bevölkerung so groß gewesen war.
Was heißt aus der Bevölkerung? Man hört ja bislang immer nur auf die Leute vor Ort. Das sind Strecken mit bundesweiter Bedeutung und würde man entsprechende Umfragen machen, dann käme sicherlich ein ganz anderes Bild dabei heraus. Das Referendum zu Stuttgart 21 wurde aus guten Gründen landesweit abgehalten, weil eben nicht nur die Leute entlang der geplanten Trasse betroffen sind.
Woher nehmen Sie bei Pro Bahn den Optimismus, dass die Leute umsteigen, wenn Bahnstrecken reaktiviert werden? Denn deaktiviert wurden sie ja unter anderem wegen mangelnden Fahrgastaufkommens.
Es gibt da schon Unterschiede zwischen früher und heute. Früher hatte die Deutsche Bundesbahn quasi den Auftrag, Strecken stillzulegen. Man war in den 70er-, 80er-Jahren autofixiert und wollte eigentlich alles loswerden, was abseits der großen Hauptstrecken war und wo man nicht 10.000 Passagiere am Tag hätte erwarten können. Und die Strecken wurden ganz gezielt heruntergewirtschaftet.
40, ist Vorsitzender und Sprecher des Pro Bahn-Landesverbandes Niedersachsen.
Wie das?
Sie kennen vielleicht noch alte Fotos von Bahnhöfen vor 30, 40 Jahren, das war eher traurig. Man hat das Angebot ausgedünnt, dann gab es plötzlich keinen Wochenendverkehr mehr, dann wurden noch parallele Buslinien eingeführt mit fast identischen Fahrzeiten. Und dann hieß es: Auf einmal fährt ja keiner mit, wir müssen stilllegen.
Vorsichtige Menschen sagen ja, man soll das Ganze erst mit einer Busverbindung ausprobieren.
Dem würde ich widersprechen. Der Bedarf ist schon im Vorfeld sehr klar. Busse sind langsamer als Züge und weniger komfortabel. Bei den Strecken, die wir vorschlagen, passt es nicht, weil wir da von deutlich vierstelligen Passagierzahlen pro Tag reden, das kriegen Sie niemals in einen Linienbus. Alle Strecken, die man mit einem vernünftigen Konzept reaktiviert hat, waren Erfolge, selbst in ländlichen Gegenden kann man teilweise Halbstundentakt fahren, einfach weil der Bedarf da ist.
In Studien wird zudem die Belebung des ländlichen Raums durch Zuganbindungen gepriesen – warum gibt es dennoch so viel Protest?
Wenn es um Reaktivierung geht, dann ist es eigentlich nie die Mehrheit, die dagegen ist. Das sind meist Bürgerinitiativen, die einen kleinen Teil der Einwohner repräsentieren. Und zwar meistens die, die auf Grundstücken entlang der Strecke wohnen und beim Kauf froh waren, dass die Strecke bald abgerissen wird. Sie befürchten, dass ihr Grundstück weniger Wert hat oder dass sie auch mal ein bisschen Verkehrslärm vor der Tür haben. Aber Verkehrswende wird nicht ohne so etwas gehen. Ich kenne kein Projekt einer Reaktivierung, wo die Mehrheit insgesamt nicht dahinter gestanden hätte. Leider sind diese Bürgerinitiativen meistens gegen etwas und dann auch relativ laut.
Wie realistisch sind Reaktivierungen, wenn es der Bahn nicht einmal gelingt, die bestehenden Strecken zu sanieren?
Wir haben da ganz klar ein Verteilungsproblem. Nach wie vor wird entgegen aller Beteuerungen viel mehr Geld für den Straßenbau ausgegeben als für den Schienenbau. Es mag sein, dass man auf Bundesebene mehr Geld für die Schiene ausgibt als für die Straße. Aber da sind die ganzen Investitionen, die Länder und Kommunen in die Straßen tätigen, noch längst nicht dabei. Es müsste jetzt ganz gezielt das Geld für völlig unsinnige Projekte wie Autobahnneubauten umgeleitet werden und man müsste auch gezielt Baukapazitäten schaffen.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Umweltfolgen des Kriegs in Gaza
Eine Toilettenspülung Wasser pro Tag und Person
Putins Atomdrohungen
Angst auf allen Seiten
BGH-Urteil gegen Querdenken-Richter
Richter hat sein Amt für Maskenverbot missbraucht
Streit in der SPD über Kanzlerkandidatur
Die Verunsicherung
+++ Nachrichten im Ukraine-Krieg +++
Biden genehmigt Lieferung von Antipersonenminen
Hype um Boris Pistorius
Fragwürdige Beliebtheit