Pro & Contra zum Tarifeinheitsgesetz: Entmachtung kleiner Gewerkschaften
Sind sie nur auf einem Egotrip oder werden sie von den Mehrheitsgewerkschaften vernachlässigt? Ein Pro und Contra.
P ro
Die kleinen Gewerkschaften betreiben meist einen rabiaten Egotrip. Ob Lokführer, Piloten oder Ärzte: Sie versuchen, für sich selbst möglichst hohe Gehälter durchzusetzen – und sehen gelassen zu, wenn die anderen Beschäftigten im Betrieb deutlich weniger erhalten. Dieser Egoismus muss eingeschränkt werden.
Das neue Urteil des Bundesverfassungsgerichts ist daher zu begrüßen, denn es hat das geltende „Tarifeinheitsgesetz“ weitgehend bestätigt: Auch künftig wird die mitgliederstärkste Gewerkschaft in einem Betrieb entscheiden, wie die Gehälter aussehen. Allerdings dürfen die Angehörigen der Minderheitsgewerkschaft nicht völlig entrechtet werden. Das Bundesverfassungsgericht verlangt also, dass die Gewerkschaften zusammenarbeiten. Das Motto lautet: Kooperation statt „Wettbewerb“.
Dieser gesetzliche Zwang wurde überfällig, weil manche Spartengewerkschaften das Prinzip „Konkurrenz“ zum Daseinszweck erhoben. Typisch war Lokführer-Chef Weselsky, der unbedingt beweisen wollte, dass er der beste Streik-Feldherr ist. Doch diese Selbstbezogenheit führt nicht nur ins Chaos, wie alle Zugreisenden wissen, die diverse Lokführerstreiks durchleiden mussten. Vor allem ist sie ungerecht. Denn in diesem „Wettbewerb“ setzen sich jene Gewerkschaften durch, deren Mitglieder die größte Streikmacht haben.
Wenn die Lokführer in den Ausstand treten, fährt ab sofort kein Zug mehr. Wenn die Angestellten in den Reparaturwerkstätten streiken, dauert es Wochen, bevor der Bahnbetrieb gefährdet ist. Allein hätten die Reparaturabteilungen also keine Chance, ihre Lohnforderungen durchzusetzen. Sie sind auf das Erpressungspotenzial der Lokführer angewiesen.
Doch diese Solidarität hat Weselsky bisher verweigert. Er sieht nur das Zugpersonal – und nennt das dann „Konkurrenz“. Ähnlich gehen die Ärzte vor, die sich nicht für die Gehälter des Pflegepersonals interessieren, oder die Piloten, denen die Flugbegleiter egal sind. Dieser Egoismus ist künftig schwieriger – und das ist gut so.
Die Spartengewerkschafter barmen jetzt, dass die Arbeitgeber ihre Betriebe so lange umfirmieren, bis genehme Gewerkschaften die meisten Mitglieder haben. Doch diesen Trick können die Gewerkschaften ganz leicht umgehen: indem sie endlich miteinander kooperieren. Mehr will auch das Bundesverfassungsgericht nicht.
Ulrike Herrmann
Contra
Selten hat das Bundesverfassungsgericht so danebengelegen wie mit seinem Urteil zum Tarifeinheitsgesetz. Mit ihrer Mehrheitsentscheidung, es im Kern mit dem Grundgesetz für vereinbar zu erklären, haben die Karlsruher Richter einen massiven Eingriff in die verfassungsrechtlich garantierte Koalitionsfreiheit erlaubt.
Daran ändern auch die geforderten Nachbesserungen nichts. So bleibt völlig unklar, wie der Gesetzgeber sicherstellen soll, dass die Interessen von Angehörigen kleinerer Berufsgruppen, die von einer Mehrheitsgewerkschaft vernachlässigt oder gar ignoriert werden, „hinreichend“ berücksichtigt werden. Das Tarifeinheitsgesetz legt fest, dass im Konfliktfall nur noch der von der mitgliederstärksten Gewerkschaft in einem Betrieb ausgehandelte Tarifvertrag gilt.
Das bedeutet, dass eine Arbeitnehmervertretung wie die Lokführergewerkschaft GDL zwar die meisten Beschäftigten in einer Berufsgruppe organisieren kann, aber trotzdem unter Umständen nichts mehr zu melden hat, weil sie im Gesamtbetrieb nur in der Minderheit ist. Klar lässt sich trefflich über die Gruppenegoismen von bislang durchsetzungsstarken Spartengewerkschaften wie der Pilotenvereinigung Cockpit lamentieren. Doch rechtfertigt das, Grundrechte de facto unter Mehrheitsvorbehalt zu stellen?
Dass Gewerkschaften nun immer wieder vor, während und nach Tarifverhandlungen den Beweis erbringen müssen, die Mehrheit der Mitglieder in einem Betrieb zu stellen, dürfte sich überdies als Beschäftigungsprogramm für die Arbeitsgerichte erweisen. In der Hoffnung, die ungeliebten Spartengewerkschaften vom Hals zu bekommen, haben die meisten DGB-Gewerkschaften das Gesetz von Arbeitsministerin Andrea Nahles begrüßt.
Aber sie sollten sich nicht zu früh freuen. Wirklichen Grund, die Sektkorken knallen zu lassen, haben nur die Arbeitgeber. Denn sie allein bestimmen, welche Arbeitseinheiten zu einem Betrieb gehören. Das bedeutet, dass sie künftig durch den passenden Zuschnitt von Betrieben auch noch die Hoheit darüber erhalten, welcher Tarifvertrag kraft seiner Mehrheit dominiert.
Aufgabe einer sozialdemokratischen Arbeitsministerin wäre es, Arbeitnehmerrechte zu stärken. Andrea Nahles hat das Gegenteil getan. Dass die Karlsruher Richter ihr dazu jetzt den Segen erteilt haben, ist traurig.
Pascal Beucker
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