Pride im ostukrainischen Charkiw: „Vereint wie nie zuvor“
Aktivist*innen aus Charkiw machen auf Verletzung der Rechte der LGBTQ-Community aufmerksam. Viele Probleme werden durch den Krieg verstärkt.
Erstmals seit Jahren wurden viele Veranstaltungen nicht vorab publik gemacht, unter anderem wegen des Frontverlaufs und des fast täglichen Beschusses der Stadt durch die russische Armee.
Am 17. September hatten die Aktivist*innen eine Performance zur Unterstützung der EuroPride in Belgrad organisiert, die der serbische Präsident Aleksandar Vučić zu verbieten versucht hatte.
Eine Gedenkfeier für die Opfer des Krieges fand dann am 21. September statt. Während einer landesweiten Schweigeminute zum Gedenken an die Opfer der russischen Aggressionen gedachten Aktivist*innen der von den russischen Besatzern ermordeten Mitglieder der Charkiwer LGBTQ-Community und legte Blumen am Denkmal für die Verteidiger der Ukraine ab. Dabei gedachte man besonders der LGBTQ-Aktivistin Elvira Schtschemur, die am 1. März bei einem Raketenangriff der russischen Armee auf das Gebäude der Regionalverwaltung in Charkiw ums Leben gekommen war.
„Elis Tod steht für uns stellvertretend für alle LGBTQ-Menschen, die durch die russische Aggression ihr Leben verloren haben. Es gibt viele Opfer, aber wir werden ihre genaue Zahl nie erfahren, weil sich nicht alle Menschen im Verlauf ihres Lebens für ein Coming-out entscheiden konnten“, sagte Stanislawa Petliza, eine der Organisatorinnen der Aktion. „Viele LGBTQ-Menschen dienen bei den ukrainischen Streitkräften, und die meisten von ihnen können es wegen der für sich unsicheren Situation in der Armee nicht riskieren sich zu outen.“
Das Recht auf Ehe für alle
Am 23. September fand die Performance „Das Recht auf gleichgestellte Ehen“ statt. In der Ukraine können LGBTQ-Menschen bislang nicht heiraten und haben damit auch viele Rechte nicht, die Verheirateten sonst zustehen.
„Durch Charkiw fuhr ein Auto, das mit Regenbogen-Hochzeitssymbolen geschmückt war. Die Organisator*innen wollten damit darauf aufmerksam machen, dass LGBTQ-Menschen in der Ukraine kein Recht auf Eheschließung haben. Das bunt geschmückte Auto blieb nicht unbemerkt. Man winkte ihm zu, lächelte“, so die Organisatorin der Charkiw-Pride, Xenia Lewadnaja.
Am Sonntag stand zum Abschluss die Charkiw-Pride-Parade in der Metro, der Charkiwer U-Bahn, auf der Agenda: ein friedlicher Demonstrationszug mit Menschen, die sich für gleiche Rechte und Chancen für alle einsetzen, unabhängig von ihrer sexuellen Orientierung oder Geschlechtsidentität. In diesem Jahr fand der Marsch angesichts der Bedingungen in der Frontstadt in geschlossener Form mit Voranmeldung statt.
„Noch ist niemand in der Ukraine in Sicherheit. Jedes einzelne Leben ist bedroht. Doch zugleich dürfen wir auch die Menschenrechte nicht außer Acht lassen. Wenn LGBTQ-Menschen es wert sind, für die Ukraine zu sterben, dann sind sie es auch wert, in diesem Land gleiche Rechte zu haben“, sagte eine andere Organisatorin der Charkiw-Pride, Anna Scharygina.
Pride-Marsch in der Metro
Die friedlichen Veranstaltungen für Menschenrechte in der Metro, seit Kriegsbeginn der größte Luftschutzraum der Stadt, wurde von mehr als 30 Teilnehmenden in Vyshyvankas, traditionell bestickten Hemden und geschmückt mit Regenbogensymbolen, unterstützt. Die Teilnehmenden marschierten durch die Metrostationen, um zu zeigen, dass LGBTQ-Menschen ein gleichberechtigter Teil der ukrainischen Gesellschaft sind, dass die LGBTQ-Community sich aktiv am Kampf für die Ukraine beteiligt und deshalb auch gleiche Rechte in diesem Land haben sollte. Die Demo fand auf allen drei Metrolinien statt, auf insgesamt zehn Stationen und an zwei Übergängen. Etwa 50 Mitarbeiter*innen der Polizei und des Metro-Wachschutzes begleiteten den Umzug.
Gleiche Rechte auch im Krieg
Eine Teilnehmerin der Demo, die Juristin Lisa Kruk, sagte, dass sie in diesem Jahr nicht nur für sich selbst zur Pride gekommen sei, sondern auch „für alle, die dieses Mal nicht teilnehmen können: für die Gefallenen und Evakuierten, für unsere Soldat*innen“. Sie „verstehe, dass wir die Verfassung nicht von heute auf morgen ändern können, dass die Gleichstellung von gleichgeschlechtlichen Ehen nicht im nächsten Monat beschlossen wird“.
Kruk sagte, für sie gehe es bei der diesjährigen Pride vor allem darum, dass LGBTQ-Rechte immer aktuell seien. „Wir sind mit Beginn des Krieges nicht verschwunden und haben immer noch Probleme.“ Außerdem neue Probleme, die direkt mit dem Krieg zusammenhingen. „Wie kann man an die Leiche des/der verstorbenen Partner*in kommen? Wie kann man den/die Partner *in im Krankenhaus besuchen? Friedliche öffentliche Demos sind schon lange Teil der ukrainischen Kultur. Die Pride ist in diesem Jahr keine Feier des Stolzes. Es ist eine Möglichkeit zu zeigen, dass wir als Teil der Gesellschaft existieren und als solcher auch gehört werden müssen“, sagte Kruk.
Größte LGBTQ-Veranstaltung der Ostukraine
Die Mitorganisatorin der Charkiw-Pride Xenia Lewadnaja betonte, dass die Veranstaltung die größte LGBTQ-Aktion im Osten der Ukraine sei. Die Teilnehmer*innen kämpften um rechtliche Gleichstellung mit den anderen Bürger*innen der Ukraine. Zu den derzeit stärksten Diskriminierungen zähle, dass LGBTQ-Bürger*innen in der Ukraine die Leichen ihrer Partner*innen nicht aus dem Leichenschauhaus abholen und den geliebten Menschen nicht bestatten dürfen.
Sie dürfen keine lebensrettenden Entscheidungen für den Partner oder die Partnerin treffen, wenn diese im Koma liegen. Auch die Betreuung des Kindes des Partners oder der Partnerin, wenn diese an der Front kämpfen bzw. verwundet wurden oder gestorben sind ist immer noch nicht gestattet, da LGBTQ-Menschen immer noch nicht legal heiraten können.
Alle Veranstaltungen der Charkiw-Pride verliefen in Sicherheit. Aktivist*innen kündigten eine Spendenaktion unter der LGBTQ-Community für den Wohltätigkeitsfonds „Charkiv with You“ an, der Frauen hilft, die in der Region Charkiw kämpfen.
Das Format der nächstjährigen Charkiw Pride wird, so die Organisator*innen in erster Linie von der militärischen Situation in der Stadt abhängen.
Aus dem Russischen Gaby Coldewey
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