Preußischer Militärtheoretiker: Das Wesen des Kriegs
Carl von Clausewitz' Überlegungen zum Krieg erleben aktuell ein Comeback – beim Bundeskanzler, in der CDU, aber auch bei Managern.
A m 20. Oktober war es so weit. „Der ganze Krieg setzt menschliche Schwäche voraus und gegen diese ist er gerichtet“, ruft Olaf Scholz vom Rednerpult des Bundestages, greift Wladimir Putin an und zitiert dabei Clausewitz. Oppositionsführer Friedrich Merz von der CDU fährt dem Kanzler und dessen Zögerlichkeit in die Parade und kontert, ebenfalls mit Clausewitz: „Das Wissen muss ein Können werden!“ Heiterkeit bei der Union, vermerkt das Protokoll.
Was dort nicht notiert ist: Carl von Clausewitz, Verfasser der wohl bekanntesten Schrift über die Theorie des Krieges, hat im Bundestag Einzug gehalten. Als Rolf-Reiner Zube davon erzählt, huscht ein Lächeln über sein Gesicht. Die Zitate, die Merz und Scholz bemühen, stammen aus Clausewitz’ Hauptwerk „Vom Kriege“. Kenner wie Zube könnten jetzt die Stellen belegen. Aber wer will das so genau wissen? „Clausewitz – viel zitiert, wenig gelesen“, seufzt Zube. Und neben ihm Bernd Domsgen ergänzt: „Der Merz hat den Satz doch in einem Management-Seminar aufgeschnappt.“
Es wirkt beschlagen, seine Rede in Krisenzeiten mit Clausewitz zu würzen. „Krieg ist die Fortsetzung der Politik mit anderen Mitteln“, ist die bekannteste Zutat, gefolgt vom „Nebel des Krieges“, jener metaphorischen Wetterlage, die alle gesicherte Erkenntnis zunichte macht.
Überhaupt findet sich seit dem russischen Angriff auf die Ukraine viel Clausewitz in Posts und Zeitungsspalten. Auf dem Buchmarkt schlägt sich Clausewitz, ob gelesen oder nicht, ebenfalls achtbar. „Vom Kriege“ findet sich im Amazon-Ranking zwischen Sönke Neitzel und Herfried Münkler.
Dieses Interesse freut Rolf-Reiner Zube und Bernd Domsgen. Zube ist ehrenamtlicher Leiter der Clausewitz-Erinnerungsstätte in Burg bei Magdeburg, Domsgen Vorsitzender der Forschungsgemeinschaft Clausewitz. Burg, Kreisstadt im nördlichen Sachsen-Anhalt, ist so etwas wie die Clausewitz-Kapitale. Hier wurde der spätere preußische General 1780 geboren, hier liegt er begraben, allerdings erst seit 1971 und mit Unterstützung der SED-Spitze.
Zube und Domsgen stehen an einem Novembermorgen in der Schulstraße 12 in Burg. Auf diesem Grundstück wurde Carl von Clausewitz, Sohn eines Steuereinnehmers und ehemaligen preußischen Offiziers, geboren. „Am 1. Juli 1780, nicht am 1. Juni“, sagt Domsgen. Im Westen Deutschlands würde das Datum im Juni immer noch kolportiert. „Längst widerlegt“, brummt Domsgen. Der Vater habe Clausewitz im zwölften Lebensjahr um einen Monat älter gemacht, um den Jungen beim Militär unterzubringen. „Er wollte ihn loswerden.“ Carl war der vierte Sohn.
„Der Krieg ist also ein Akt der Gewalt, um den Gegner zur Erfüllung unseres Willens zu zwingen.“ (Clausewitz)
Im Jahr 2000 wurde das Haus in Burg eröffnet, das gleichzeitig Museum, Veranstaltungsort und Mekka vieler Clausewitz-Verehrer ist. „Aus aller Welt“, betont Rolf-Reiner Zube. Im Gästebuch finden sich Dankesworte US-amerikanischer Offiziere, von Besuchern aus Kanada, Frankreich und China, die japanische Clausewitz-Gesellschaft hat sich ebenso verewigt wie die Panzerpionierkompanie aus Stetten.
Clausewitz gilt neben dem Chinesen Sunzi aus dem 6. Jhd. v. Chr. als der bedeutendste Theoretiker dessen, was Krieg ist. Doch Clausewitz hat keine Strategien darüber verfasst, wie man Territorien erobert. Es geht vielmehr um das Wesen dessen, was Armeen und Staaten einander antun, wenn sie Krieg führen.
Was passiert, wenn zivile Regeln fallen? Wenn Hass das Handeln beherrscht? Wenn Dauerregen alle Ordnung auflöst? „Vom Kriege“ ist eine Art philosophische Betrachtung des Krieges, kein Handbuch für den Sieg. Darin heißt es etwa: „Der Krieg ist mehr für den Verteidiger als für den Eroberer da, denn der Einbruch hat erst die Verteidigung herbeigeführt und mit ihr erst den Krieg. Der Eroberer ist immer friedliebend (…), er zöge ganz gern ruhig in unseren Staat ein.“
Viele von Clausewitz’ Beobachtungen seien zeitlos, sagt Zube. Längst holen sich auch Manager Rat ein. Es gehe um Zufall und Wahrscheinlichkeiten, um Unübersichtlichkeit, um den Zusammenbruch aller Planung, wenn Konflikte eskalieren und darum, unter Druck und ohne ausreichende Informationen Entscheidungen zu treffen.
Verwaltungen, Planungsstäbe und Konzernvorstände seien 2022 bei Clausewitz fündig geworden. Clausewitz nannte es „Seelenstärke“: Das, was in Bedrängnis vonnöten sei. Heute könnte man das Entschlusskraft nennen, oder Geistesgegenwart. Clausewitz war somit auch ein Analytiker menschlichen Verhaltens.
Ohne seine Frau Marie, eine geborene Gräfin von Brühl, wäre das Werk vermutlich nie erschienen. Clausewitz, im November 1831 an Cholera gestorben, hinterließ ein unveröffentlichtes Manuskript. Zwischen 1832 und 1834 erschien in Berlin „Vom Kriege“ in einer Auflage von 1.500 Exemplaren als „Hinterlassenes Werk“ mit einem Vorwort der Ehefrau und Herausgeberin Marie von Clausewitz, die sich darin selbst als „teilnehmende Begleiterin“ verstand.
Es sei 1810 eine Liebesheirat gewesen, sagt Zube. Die beiden mussten sich gegen Widerstände durchsetzen. Seit 2016 gibt es eine Biografie über Marie von Clausewitz, erschienen bei der Oxford University Press: „Marie von Clausewitz. The Woman Behind the Making of ‚On War‘“. Autorin Vanya E. Bellinger stammt aus Bulgarien. Sie hat im Geheimen Staatsarchiv in Berlin erstmals die Briefe der Eheleute Clausewitz ausgewertet und wurde 2022 am King’s College in London promoviert.
Natürlich ist auch sie Mitglied der Burger Forschungsgemeinschaft. Seit Herbst 2022 lehrt sie am Naval War College, der Akademie der US-Navy in Newport, Rhode Island. Die „Clausewitz-Schule“ schlechthin in den USA, betont Bernd Domsgen. Leider gebe es die Biografie nicht in deutscher Übersetzung.
Auf dem hiesigen Buchmarkt ist „Clausewitz verstehen. Wirken, Werk und Wirkung“ vom Militärhistoriker Christian Th. Müller die neueste, profunde Publikation. Müller konstatiert in dem 2021 erschienen Buch, dass sich die Bundeswehr zwar mit Clausewitz schmücke, seine Lehre aber weitgehend ignoriere und sich an heutigen Theoretikern orientiere, etwa Martin van Creveld und John Keegan, die Clausewitz für obsolet halten. Bei Müller, außerplanmäßiger Professor an der Universität Potsdam, können sich Studentinnen und Studenten bei „War and Conflict Studies“ in die Lektüre von „Vom Kriege“ vertiefen. Der Zustrom, sagt Müller, halte sich in Grenzen.
Zube und Domsgen haben inzwischen im Clausewitz-Café Platz genommen. Zuvor gab es einen Abstecher in die Clausewitz-Kaserne. Dort erhebt sich eine bronzene Clausewitz-Büste – also weitab vom Zentrum. Das Missfallen über diese marginale Platzierung ist bei Domsgen herauszuhören, gab es doch zur DDR-Zeit schon einmal ein Clausewitz-Relief, und zwar mitten in der Stadt.
Das Clausewitz-Café ist kaum mehr als eine Nische. Doch der hintere, gemütliche Teil ist ein wahres Clausewitz-Kabinett mit Porträts des Militärtheoretikers, engsten Freunden wie Scharnhorst und Gneisenau und Memorabilien, etwa einem Brief Clausewitz’ an seine Frau voll warmer Worte über Burg: „Meine Vater-Stadt Burg hat mich diesmal besonders gerührt. Sie sieht viel stattlicher aus, und es war gerade Kirchgang, was mir die Sonntage meiner Kindheit in Erinnerung brachte.“ Clausewitz blickt mit vollem Haar, rotem Stehkragen und acht Orden aus einem Bild, als wolle er die Burger für sich gewinnen.
Dabei ist Clausewitz allgegenwärtig. Die Kaserne und das Café tragen seinen Namen, eine Sekundarschule und ein Hotel ebenfalls, es gibt die Grabstätte und die Erinnerungsstätte, eine Clausewitz-Figur, geschnitten aus Stahl, außerdem die Forschungsgemeinschaft und einen Clausewitz-Freundeskreis. Nicht zu vergessen den Clausewitz-Preis der Stadt Burg. Doch der Kreis der Enthusiasten bleibt in der Stadt mit 22.000 Einwohnern überschaubar.
„Clausewitz etwas breiter in die Bevölkerung zu bringen“, so benennt Zube den Auftrag. Die Zurückhaltung hat auch mit der Clausewitz-Rezeption zu tun. Die Namen vieler deutscher Verehrer sind kontaminiert oder verdächtig: Die Generalfeldmarschälle Helmuth von Moltke, Alfred von Schlieffen, Paul von Hindenburg. Goebbels sei an Clausewitz-Briefen interessiert gewesen, erzählt Zube. Und auch die „Klassiker“ des Marxismus-Leninismus machen die Sache nicht leichter. Marx, Engels und Lenin haben „Vom Kriege“ gelesen. Engels hielt Clausewitz für „einen Stern erster Größe“, Lenin sah in ihm einen „der berühmtesten Schriftsteller über die Philosophie des Krieges“.
Und dann ist da noch die DDR. Den Genossen der SED kam entgegen, dass Clausewitz im Frühjahr 1812, enttäuscht vom preußischen König und dessen Bündnis mit Frankreich, den Abschied nimmt, zur russischen Armee übertritt und gegen Napoleon kämpft, der mit seiner Grande Armée und preußischen Hilfstruppen in Russland eingefallen ist. Ende 1812 ist Clausewitz als russischer Unterhändler an der Konvention von Tauroggen beteiligt, einem Waffenstillstand, mit dem Preußen die französische Gefolgschaft kündigt und fortan an der Seite Russlands kämpft.
Die SED musste die historische Vorlage nur aufgreifen. „Das Eintreten Carl von Clausewitz’ für den Kampf um eine gerechte Sache an der Seite des russischen Volkes ist heute eine der historischen Traditionen der Waffenbrüderschaft, die unsere Nationale Volksarmee und die ruhmreiche Sowjetarmee eng verbinden“, lobte 1980 der stellvertretende DDR-Verteidigungsminister in Burg anlässlich des zweihundertsten Clausewitz-Geburtstags.
Da hatte die SED den „großen Patrioten“ schon heimgeholt. Als 1971 in Wroclaw ein Friedhof planiert werden sollte, kontaktierten die polnischen Genossen Ost-Berlin. Polen hatte wenig Interesse an einem deutschen General, der in Wroclaw mit seiner Frau begraben lag. Prompt ließ der DDR-Ministerrat die Gebeine holen. Am 19. November 1971, drei Tage nach seinem 140. Todestag, wird Clausewitz mit seiner Frau auf dem Burger Ostfriedhof beigesetzt, mit DDR-Fahne und Ehrenwache.
„Die meisten Nachrichten sind falsch, und die Furchtsamkeit derMenschen wird zur neuen Kraft der Lüge und Unwahrheit.“ (Clausewitz)
Der Friedhof liegt vor der Stadt. Bernd Domsgen deutet auf das Steinkreuz. „Beim Transport ist damals eine Ecke herausgebrochen.“ Zube und Domsgen inspizieren ein paar Schleifen. Vor wenigen Tagen war wieder eine Ehrenwache hier. Soldaten der Clausewitz-Kaserne haben mit Fackeln die Feierstunde am Clausewitz-Todestag illuminiert, zu der die Stadt alljährlich einlädt. Vor dem Grab haben alle aus der Clausewitz-Gemeinde Kränze abgelegt – der Bürgermeister, die Reservistenkameradschaft, die Kaserne, die Forschungsgemeinschaft, der Freundeskreis. Der Stadtrat allerdings ist kaum vertreten.
Nur die AfD lege regelmäßig Gestecke ab, sagt Rolf-Reiner Zube. Er bedauert, dass ihr die anderen Parteien das Feld überlassen. Das AfD-Gesteck ist als solches nicht mehr zu erkennen. Nach der Ehrung hat sich jemand daran gemacht, sämtliche AfD-Würdigungen von den stahlblauen Schleifen zu kratzen.
Am Clausewitz-Grab passieren manchmal seltsame Dinge. Unvergessen bleibt für Zube und Domsgen der junge Chinese, der hier 2020 auf die Knie gegangen ist. Anschließend hat der Mann, der als Manager in Katar arbeitete, ein glühendes Bekenntnis ins Gästebuch geschrieben: „Sie sind vielleicht kein Fan von Kriegsangelegenheiten, aber Konflikte und Wettbewerb gibt es heute überall im Leben. Wer ‚Vom Kriege‘ und Clausewitz kennt, lernt ein Stück Weisheit für sein Leben.“
Der Mann habe als Kind ein Clausewitz-Buch aus der DDR gelesen, das ins Chinesische übersetzt wurde, erzählt Domsgen. Es ist manchmal merkwürdig, wie sich eine Leidenschaft entwickelt. Auch bei Domsgen selbst, dem man auch nach Jahrzehnten anhört, dass er aus dem Sächsischen stammt. „Ich habe Clausewitz auf der Militärakademie in Kyjiw kennengelernt“, sagt Domsgen. Von 1977 bis 1982 habe er mit seiner Familie in Kyjiw gelebt und dort die sowjetische Kaderschmiede besucht.
1989 wurde Domsgen in der Burger Kaserne zum Verantwortlichen „für alle Raketen“. Und er schiebt nach: „Ich war gefürchtet“. Vielleicht wirkt Domsgen deswegen etwas schroffer als Zube. Am 30. September 1990 ist er als Oberstleutnant aus der NVA ausgeschieden. Drei Tage später war sie Geschichte. Danach begann sein zweites Leben als Versicherungsverkäufer und Clausewitz-Koryphäe. Vierzig Ordner habe er zu Hause, drei hat er heute mitgebracht.
Rolf-Reiner Zube hält noch eine Überraschung bereit. Er führt die Treppe einer alten Fabrikantenvilla hinauf. Der Kosmos, der sich auftut, ist spektakulär. Rolf-Reiner Zube wirkt glücklich, als er die Beleuchtung einschaltet und durch die Säle führt. Von Vitrine zu Vitrine öffnet sich eine Welt aus Zinn. Der erste, den Zube präsentiert, ist Clausewitz selbst mit seiner Frau Marie als Biedermeierpaar, eine fingergroße Arbeit, teilweise noch unbemalt. Es folgt Napoleon bei den Pyramiden, da sind auch Stabsoffiziere im russischen Unterstand bei der Beratung, Clausewitz bei der Konvention von Tauroggen, der trostlose Rückzug der Grande Armée durch den russischen Schnee. Es ist ein Welt- und Kriegstheater mit höchst plastischen Persönchen.
Und so offenbart Rolf-Reiner Zube seine zweite Leidenschaft. Das Gravieren und Bemalen von Zinnfiguren hat er als Jugendlicher erlernt und pflegt es bis heute. „Über dieses Hobby bin ich zu Clausewitz gekommen.“ Später habe er sich für ein Pädagogikstudium entschieden und wurde Lehrer für ESP – die „Einführung in die sozialistische Produktion“. Was ideologisch klingt, war ein überaus praktischer, berufsvorbereitender Unterricht. Wenige Tage nach der Deutschen Einheit erhielt Zube seine Promotionsurkunde, gleichzeitig konnte er sich nach einem neuen Job umsehen. Wie Domsgen fand auch er ihn in der Versicherungsbranche.
Inzwischen ist Zube am unbestrittenen Glanzstück der Ausstellung angekommen: Die Schlacht von Borodino am 7. September 1812, ein Kriegsdrama mit 3.000 Zinnfiguren. „Die Franzosen versuchen, die Rajewski-Schanze einzunehmen“, erklärt Bernd Domsgen die Szenerie. Im Hintergrund, durch eine andere Scheibe, blickt Rolf-Rainer Zube ganz still auf das Getümmel.
Die Schanze haben die Russen Napoleon in den Weg gestellt. Unter heftigem Artilleriebeschuss versuchen die Franzosen, das Bollwerk zu stürmen. Irgendwann gelingt es – die Russen ziehen sich zurück, der Weg nach Moskau ist für Napoleon frei, kurz darauf zieht er in den Kreml ein. Doch sein Sieg ist wertlos. Wochen später wird er aus der niedergebrannten Stadt abziehen. Seine Grande Armée stirbt auf dem Heimweg – an Hunger, Kälte und den ständigen Angriffen der Russen.
Von einer Anhöhe beobachtet Carl von Clausewitz, russischer Oberquartiermeister unter General Uwarow, das Gemetzel von Borodino. Etwa 70.000 von den insgesamt 250.000 Soldaten sterben oder werden verwundet. Clausewitz schreibt später: „Es ist mir immer merkwürdig geblieben, wie die Schlacht nach und nach den Charakter von Ermüdung und Erschöpfung annahm … nachmittags um 3 Uhr ungefähr sah man, dass die Schlacht in den letzten Zügen lag und dass also, wie meistens, die Entscheidung der ganzen Frage noch davon abhänge, wer noch den letzten Trumpf in der Hand, die stärksten Reserven zurückbehalten habe.“Es liest sich, mit Blick auf die Ukraine, wie eine Vorschau ins neue Jahr.
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