Pressefreiheit in Tunesien: Kein fabelhaftes Land
Die tunesische TV-Moderatorin Sonia Dahmani wurde nach einem regierungskritischen Spruch verhaftet. Ihre Kollegen sehen die Pressefreiheit in Gefahr.
TUNIS taz | Nach dem erfolgreiche Aufbegehren der tunesischen Zivilgesellschaft während des Arabischen Frühlings wurde das Land zu einem Vorbild in der Region und auf dem gesamten Kontinent gemacht. Protestbewegungen wie „Manich Msemah“ (wir verzeihen nicht) lockten regelmäßig Zehntausende gegen die anhaltende Macht der Business-Netzwerke aus Regimezeiten auf die Straßen, die Verfassung von 2014 war ein Kompromiss aller politischen Parteien. Sit-ins wie die Karmour-Bewegung forderten auch in weit von der Hauptstadt entfernt liegenden Orten soziale Gerechtigkeit. Vor allem der 2015 vergebene Friedensnobelpreis schien der Beweis dafür, dass der demokratische Wandel in Tunesien krisenfest ist. Doch der von Präsident Kais Saied eingeführte und vom Parlament bestätigten Paragraf 54 hat nun erste Kritiker die Freiheit gekostet.
Seit einer Liveübertragung des französischen Nachrichtensenders France 24 am 11. Mai aus dem Haus der Rechtsanwälte in Tunis mobilisiert die zuletzt passive Zivilgesellschaft zu Straßenprotesten.
Die bekannte Rechtsanwältin und TV-Kommentatorin Sonia Dahmani hatte Journalisten und Mitstreiter dorthin zu einer Protestaktion geladen. Zuvor war die 35-Jährige stundenlang von Polizeibeamten wegen einer Fernsehdiskussion auf Carthago TV befragt worden. Mit zwei schlichten Worten hatte sie eine von Präsident Kais Saied und staatlichen Medien verbreitete Verschwörungstheorie auseinandergenommen.
Ein neben Dahmani geladener Diskussionsteilnehmer erklärte die zunehmende Zahl von Migranten als Kampagne dunkler Mächte gegen die arabische und islamische Kultur Nordafrikas. Die tunesische Zivilgesellschaft würde dabei mithelfen, da sie Gelder aus dem Ausland erhalte, so ein anderer Gesprächsteilnehmer. Da platzte der ansonsten besonnen auftretenden Frau mit dem prägnanten Kurzhaarschnitt der Kragen.
Die Jugend will weg
„Von welchem fabelhaften Land sprechen Sie denn? Die Hälfte unserer Jugend will doch selbst auswandern.“ „Hayla Lebled“, die arabischen Worte für fabelhaftes Land, wurden in Windeseile ein ironischer Inbegriff für die Untätigkeit der politischen Elite gegenüber der sich zuspitzenden wirtschaftlichen und sozialen Krise im Land. Die Justiz sah in ihrem Kommentar die laut Paragraf 54 verbotene Verbreitung von Gerüchten und Falschmeldungen und erhob gegen Dahmani Anklage.
Die Reporterin des Nachrichtensenders France 24 wollte sie im Haus der Anwälte gerade vor die Kamera bitten, als vermummte Polizeibeamte in das Gebäude stürmten. Mit einem stummen Lächeln ließ sich Dahmani abführen und sitzt seitdem in Untersuchungshaft.
Auch den Kameramann von France 24 nahmen die Beamten kurz mit. Erst als sie die Speicherkarte seiner Kamera einforderten, wurde ihnen klar, dass die ganze Aktion live in der abendlichen Nachrichtensendung von France 24 gezeigt worden war. Die sichtlich geschockte französische Reporterin und ihr Team konnten nach Hause gehen. Doch unter tunesischen Journalisten herrscht nun die Angst, selbst für leichte Kritik auf sozialen Medien belangt zu werden. Mit Mourad Zeghidi und Bohren Bsais sind in der Vorwoche zwei renommierte Medienvertreter zu einem Jahr Gefängnis verurteilt worden. Angeblich für Facebook-Beiträge, die Jahre zurückliegen. Zur Überraschung vieler Beobachter wandelte die ansonsten überlastete Justiz eine zunächst auf 48 Stunden begrenzte Untersuchungshaft in Rekordzeit in ein drakonisches Urteil um.
Rechtsanwälte demonstrieren
„Nicht einmal das Ben-Ali-egime hatte es gewagt, in unser Gebäude einzudringen und so offensichtlich das Recht zu brechen“, kommentiert ein Anwalt den Polizeieinsatz. Mit einem landesweiten Streik wollen er und seine Kollegen weitere Schnellverfahren dieser Art verhindern. Begonnen hatte die Verhaftungswelle bereits im letzten Jahr. Ende Dezember verhafteten die Behörden den Al-Jazeera-Journalisten Samir Sassi und den Kommentator eines unabhängigen Radiosenders, Zied el-Heni. Während gegen Sassi keine Anklage erhoben wurde, läuft gegen el-Heni wegen „persönlicher Beleidigung anderer“ während einer Radiosendung ein Verfahren. El-Heni hatte Handelsminister Kalthoum Ben Rejeb kritisiert.
Zuvor war bereits Noureddine Boutar, der Direktor des populären Radiosenders Mosaique FM, unter anderem wegen Geldwäsche verhaftet worden. In dem unabhängigen Radiosender sind oft kritische Worte gegenüber Präsident Saied zu hören, ebenso wie gegen seine politischen Gegner, die moderaten Islamisten der Ennahda-Partei oder die dem Ex-Regime nahe stehende Oppositionsführerin Abir Moussi.
Die Führungsriege der nach der Revolution beliebten Ennahda sitzt hinter Gittern, weil sie Gelder aus dem Ausland erhalten hatte. Gegen die inhaftierte Abir Moussi wurden zwei weitere Verfahren eröffnet. In der Öffentlichkeit sind die Details der Verfahren oft kaum bekannt. Die Mehrheit der Bevölkerung ignoriert Saids Umbau der Demokratie in ein basisdemokratisches Modell mit gleichzeitig stärkerer Macht des Präsidenten.
Bei der Parlamentswahl im Januar beteiligten sich nur rund 11 Prozent der Wahlberechtigten. Aber der harsche Kurs des Juraprofessors und Politikquereinsteigers Saied gegen Politiker, die Zivilgesellschaft und Medien stößt vor allem im vernachlässigten Südwesten Tunesiens auf Zustimmung. In Orten wie Sidi Bousid, von wo aus sich der Arabische Frühling in die gesamte arabische Welt ausbreitete, ist die Enttäuschung über die Revolution groß. Journalisten und Rechtsanwälte in Tunis zählen hier viele als Teil einer Elite, die zwar für die errungene Meinungsfreiheit kämpft, aber zu der sozialen Ungerechtigkeit im Land schweigt.
Am Freitag gingen trotzdem mehrere hundert Demonstranten für die Meinungsfreiheit im Zentrum von Tunis auf die Straße. Kais Saied reagierte daraufhin mit dem Versprechen, diese sei weiterhin garantiert. Aus Europa kommt bisher dagegen nur verhaltene Kritik. Denn Kais Saied setzt konsequent ein mit der EU-Kommission geschlossenes Migrationsabkommen durch. Hunderte Migranten und Geflüchtete werden verhaftet und an die Landesgrenzen gebracht. Journalisten ist es nur mit äußerst selten vergebenen Sondergenehmigungen erlaubt, darüber vor Ort zu berichten.
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