Premiere an der Volksbühne Berlin: Mein Kind bin ich
Regisseur Kornél Mundruczó inszeniert an der Volksbühne Berlin ein Drama über emotionalen Missbrauch. Das bleibt an der Oberfläche.
Es ist Trainingszeit. Mit schwarzem Klebeband markiert Mama Clau einen Laufsteg quer durchs Wohnzimmer, dann zieht sie Mini Plüschstilettos an, legt ihr ein Buch auf den Kopf – und Mini trippelt in schulterfreiem Top im Catwalk über die Linie und zieht eine Grimasse in Richtung Kamera, die eine Jury später als strahlendes Lächeln interpretieren soll. Dann muss Mini ihrer Mutter nachsprechen: „Ich bin eine Gewinnerin!“ Aber das Buch fällt herunter und Mini hat keine Lust mehr, Model zu üben. Darauf Clau beleidigt: „Deine Einstellung ist zum Kotzen!“
Mini ist zehn Jahre alt und überhaupt kein Modepüppchen – anders als ihre Mutter, die nichts im Kopf hat außer Botox, Make-up und die Schönheitswettbewerbe ihrer Tochter, die diese ganz offensichtlich ausschließlich für ihre Mutter gewinnen muss. „MiniMe“ heißt ja bereits der Titel, also: das Ich in Kleinformat, die Tochter, die das versäumte Leben ihrer Mutter nachholen soll. Die hat es nämlich nicht zum Model-Star geschafft – was sie sich selbst und ihrem Mann natürlich nie eingestehen würde.
Eigentlich sind diese „Zehn Lektionen in Unterwerfung“, so der Untertitel der Inszenierung in der Volksbühne Berlin, eine finstere Angelegenheit. In einem modernen Betonbunker mit Pool und Kamin, eingerichtet in schickem Retrostyle, wird Mini von ihrer Mutter psychisch und emotional missbraucht, wie es im Lehrbuch steht. Aus Angst vor Liebesentzug zwingt sie sich zu allem, ohne es ihrer Mutter je recht machen zu können – nur wenn der Druck zu groß wird, lässt sie sich auf den Boden fallen und stellt sich tot wie ein Tier in Schockstarre.
Die erste Hälfte des Abends, den Kornél Mundruczó inszeniert hat, wird als Live-Film auf die Außenwand des Hauses projiziert, das auf der Bühne steht. Davor steuert ein Musiker dröhnende, düstere Sounds bei. Erst als sich die Wand hebt, entpuppt sich das Innere als Kulisse, in der die Schauspieler agieren.
Hyperrealismus mit Messerblock
Man blickt auf den typischen Mundruczó-Hyperrealismus: Vom Messerblock an der Küchenwand bis zur angebrochenen Weinflasche auf der Anrichte ist das Haus detailgenau ausstaffiert. Je mehr das Stück voranschreitet, desto bizarrer wird es: Die Mutter bedroht den Vater mit dessen Jagdgewehr, sie spritzt Mini Botox ins Gesicht – während Mini mit einem gezielten Schuss aufs Meerschweinchen ihre Liebe beweisen muss.
Die Nachwuchsdarstellerin Maia Rae Domagala macht das sehr überzeugend. Doch bei der bewährten Volksbühnen-Schauspielerin Kathrin Angerer, die Minis Mutter gibt, klingt jeder Satz so ironisch gebrochen, als spreche sie einen Pollesch-Text.
Alles wird Angerer zur Komödie, weil sie ihre Figur schlicht nicht ernst nimmt. Und mit Blick auf den Text kann man das verstehen: Der Horrortrip der Kinder, die von den Eltern als Verlängerung ihrer selbst missbraucht werden, hätte ins Mark treffen können, wenn die Erwachsenen im Stück nicht solche Karikaturen wären – der hemdsärmelige Jäger und das Modepüppchen mit Profilneurose. Ob die Autorin Kata Wéber dieses Karikatureske beabsichtigt hat? Unwahrscheinlich – bislang waren ihre Frauenfiguren ernsthafte Charaktere wie Martha in „Pieces of a Woman“, die sich das Recht auf ihren Schmerz nicht rauben lässt.
„Pieces of a Woman“ ist der Kinofilm, ursprünglich ein Theaterstück, der dem ungarischen Regisseur Kornél Mundruczó und seiner Autorin Wéber 2020 internationalen Erfolg beschert hat: Vanessa Kirby wurde für ihre Hauptrolle für einen Oscar nominiert. Der Film (auf Netflix zu sehen) zeigt das Leiden einer Frau nach dem Tod ihrer neugeborenen Tochter. Ungemein bedrückend die schonungslose 20-minütige Szene, in der wir Martha bei der misslingenden Hausgeburt zusehen.
Serie von Mikroportraits
Ein „Mikroportrait“ nennen es die beiden Künstler – und ein neuer Teil dieser Serie von Mikroportraits soll „MiniMe“ sein. Doch auf der Bühne wirkt es, als entlarve Angerer mit ihrer Spielart die mangelnde Glaubhaftigkeit der Figuren.
So entwickelt sich der Abend zum grotesken Thriller, ästhetisch formvollendet, mitunter bitter komisch – allerdings auch flach und vorhersehbar. Immerhin hat René Pollesch mit dem ungarischen Duo endlich einmal Künstler ans Haus geholt, die noch nicht in Berlin zu sehen waren. Der Knoten seiner bislang so enttäuschenden Intendanz ist damit an der Volksbühne jedoch noch nicht geplatzt.
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