Prekär beschäftigte Lkw-Fahrer: Festgefahren im Arbeitskampf
Schärfere Regeln auf EU-Ebene und das Lieferkettengesetz sollten Ausbeutung von Lkw-Fahrern verhindern. Die Wirklichkeit sieht anders aus.
Mitarbeiter*innen der Beratungsstelle Faire Mobilität, von Verdi und der European Trade Federation wollen Lkw-Fahrer über ihre Rechte aufklären und nebenbei etwas über ihre Arbeitsbedingungen erfahren. Rund 200 Raststätten hat die Faire Mobilität seit 2017 besucht, das sind etwa 30 pro Jahr. Mit etwa 10.000 Fahrern haben ihre Berater*innen dabei gesprochen. Die meisten bestätigen, was die Gewerkschafter*innen sowieso schon wissen: Die Regeln, die die Europäische Union mit ihrem Mobilitätspaket vor über zwei Jahren beschlossen hat, werden kaum eingehalten.
Die Trucker fahren meist für osteuropäische Speditionen, im Auftrag großer deutscher und westeuropäischer Unternehmen. Sie bringen Waren vom Hersteller zum Großhandel oder zu Baumärkten und Möbelgeschäften. Viele von ihnen sind wochen- oder monatelang unterwegs, bevor sie wieder nach Hause fahren können.
Im Frühjahr wurden die Arbeitsbedingungen der Fahrer Gegenstand öffentlicher Debatten: Zunächst im März und April, dann noch einmal von Juli bis Ende September streikten Fahrer der polnischen Unternehmensgruppe Mazur auf dem hessischen Autobahnrastplatz Gräfenhausen, weil ihnen ihr Lohn nicht ausgezahlt worden war. Diese Form der Ausbeutung ist allerdings kein Ausnahmephänomen, wie Gewerkschafter immer wieder betonten. Sie sei vielmehr die Regel.
Am Freitagnachmittag auf dem Rastplatz bei Berlin sind die Berater*innen in Teams von drei oder vier Personen mit unterschiedlichen Sprachkenntnissen unterwegs: Polnisch, Russisch, Rumänisch, Ukrainisch. Obwohl es noch heller Tag ist, ist kaum ein Fahrer draußen zu sehen. Es sind fünf Grad, der Wind weht eisig, in den Führerhäusern ist es wärmer. Außerdem schlafen viele: Sie fahren nachts und ruhen sich tagsüber aus.
EU-Mobilitätspaket Die EU hat 2021 neue Regeln für die grenzüberschreitende Entlohnung von Fahrern und für Lenk- und Ruhezeiten verabschiedet. Seitdem muss immer der Mindestlohn des Landes gezahlt werden, in dem der Fahrer sich gerade befindet. Ruhezeiten sollen außerhalb des Lkw verbracht werden. Das heißt, das Unternehmen muss ihnen einen Schlafplatz bezahlen, sodass sie nicht in der Führerkabine schlafen müssen. Alle vier Wochen sollen sie zudem nach Hause zu ihren Familien fahren können.
Lieferkettensorgfaltspflicht Seit Januar 2023 müssen Unternehmen mit mindestens 3.000, ab 2024 auch solche mit mindestens 1.000 Beschäftigten im Inland aktiv verhindern, dass Menschenrechte entlang ihrer Lieferkette verletzt werden. Sie müssen außerdem ein Beschwerdemanagement einführen. Ein EU-weites Lieferkettengesetz ist in Planung.
Europäische Arbeitsbehörde Die ELA wurde 2019 geschaffen. Sie soll Arbeitnehmer über ihre Rechte informieren, die Zusammenarbeit zwischen den Mitgliedstaaten koordinieren und bei Auseinandersetzungen zwischen nationalen Behörden vermitteln.
Für Arbeitnehmer eines deutschen Unternehmens gelten der deutsche Mindestlohn sowie alle weiteren hiesigen Arbeitsrechte, etwa zur wöchentlichen Stundenzahl und zu Urlaubsregelungen. Sitzt das Unternehmen in Polen oder Litauen, muss es jeweils den Mindestlohn des Landes zahlen, in dem der Lkw gerade fährt. Das soll über digitale Fahrtenschreiber überprüft werden können. Fahrer, die keine EU-Bürger sind, brauchen zusätzlich eine Arbeitsgenehmigung.
Übernachtung im Lkw verboten
Um die Ausbeutung ausländischer Fahrer auf europäischen Straßen zu verhindern, hat die EU-Kommission 2021 das sogenannte Mobilitätspaket verabschiedet: Fahrer sollen nicht mehr im Lkw übernachten, alle vier Wochen nach Hause fahren können und alle acht Wochen müssen die Lkws zum Firmensitz zurückgebracht werden.
Dass die Realität eine andere ist, zeigen die Raststättenbesuche. Ein Mann in kurzen Hosen steigt aus einem der Lkws und geht in Richtung Toilettencontainer. Dominika Adamczak spricht ihn an. Er komme aus Panjabi in Indien, erzählt er auf Englisch, habe drei Jahre in Dubai gearbeitet, bevor er nach Polen ging. Dort habe er fünf Monate auf seine Papiere warten müssen und sei nun seit zehn Tagen unterwegs. Er fahre und schlafe im Lkw. Sein Lastwagen sei sein Büro und sein Zuhause, sagt er.
Sein Arbeitgeber habe ihm 1.000 Złoty – etwa 225 Euro – für Lebensmittel gegeben, eine Anzahlung auf seinen Lohn. Umgerechnet 1.500 Euro solle er pro Monat bekommen. Das sind, geht man von einer 40-Stunden-Woche aus, 9,37 Euro pro Stunde. Das liegt weit unter dem deutschen Mindestlohn von 12 Euro.
Die Spanne dessen, was die Fahrer auf dem Rastplatz nach eigenen Angaben verdienen, ist weit. Von 1.500 Euro sprechen die einen, von 3.000 Euro die anderen. Manche bekommen Geld pro gefahrenem Kilometer – was nicht rechtens ist –, andere eine Mischung aus Stunden- und Kilometerlohn. Manche haben ein Monatsgehalt, andere einen Tageslohn.
„Denjenigen, die am verletzlichsten sind, drängen die Arbeitgeber die schlechtesten Arbeitsbedingungen auf“, sagt Michael Wahl, Branchenkoordinator Internationaler Transport bei der Fairen Mobilität, der den Einsatz auf der Rastplätze am Freitag leitet. Wer in einem fremden Land arbeitet, kann Verträge oft nicht lesen, weil die Sprachkenntnisse fehlen. Viele kennen die rechtlichen Rahmenbedingungen nicht, haben keine Netzwerke, und man kann mit einem Arbeitsvisum auch nicht einfach den Job wechseln. „Wir gehen seit sechs Jahren auf Rastplätze, die Bedingungen auf der Straße haben sich für viele immer weiter verschlechtert“, sagt Wahl.
Tricks der Lohndrücker
Oft wenden die Arbeitgeber Tricks an, um die Löhne zu drücken. Eigentlich müssen sie die Kosten für Parkplätze, die Benutzung von Toiletten, Duschen oder Unterkünften auf den Rastplätzen bezahlen. Meist jedoch ziehen sie das Geld vom Lohn ab, statt es draufzuschlagen.
Und nicht selten kommt es vor, dass das Geld erst Monate später oder gar nicht gezahlt wird – wie dieses Jahr bei der polnischen Spedition Mazur. Dass Lkw-Fahrer sich wehren, kommt so gut wie nie vor. Das liegt unter anderem daran, dass sie kaum organisiert sind und oft die Verträge, die ihnen vorgelegt werden, nicht verstehen oder nicht genug Zeit haben, um sie zu lesen, bevor sie sie unterschreiben. Umso ungewöhnlicher waren die beiden wilden Streiks in Gräfenhausen – die jeweils mit einem Erfolg für die Fahrer endeten.
Im April zahlte Mazur rund 300.000 Euro an etwa 60 Trucker. Die Fahrer machten Druck auf die an der Lieferkette beteiligten Firmen – große Unternehmen wie DHL, Bauhaus, Obi und VW. Da seit Anfang 2023 das Lieferkettensorgfaltsgesetz gilt, sind Unternehmen mit mindestens 3.000 Beschäftigten in Deutschland dazu verpflichtet, bei ihren Zulieferern auf die Einhaltung der Menschenrechte zu achten.
Zuständig für die Einhaltung des Gesetzes ist das Bundesamt für Wirtschaft und Ausfuhrkontrolle (Bafa). Das berief Mitte Oktober einen Krisengipfel ein. Anschließend erklärte Bafa-Chef Torsten Safarik, in Gräfenhausen seien rund 1.000 Dokumente ausgewertet worden, und die Ergebnisse hätten ihn „negativ überrascht“. Das Bafa habe 58 Unternehmen gefunden, die unter das Lieferkettensorgfaltspflichtgesetz fallen. Nach dem ersten Streik in Gräfenhausen hätte den Firmen Mazur bekannt sein und sie hätten die Zusammenarbeit unterbinden müssen. Das Bafa hat Ermittlungen aufgenommen.
Auch ein zweiter Streik in Gräfenhausen im September endete mit einem Erfolg für die Fahrer. Mazur sagte zu, seine Anzeigen gegen die Trucker wegen Erpressung und Unterschlagung der Lkw zurückzunehmen. Zusammen erhielten die Fahrer außerdem rund 500.000 Euro – allerdings nicht von ihrem Auftraggeber Mazur, und die Zahlung wurde auch nicht als ausstehender Lohn deklariert. Deutsche Unternehmen hätten sich, so Safarik, „aus humanitären Gründen“ zu einer „Spende“ bereiterklärt.
Ein stumpfes Schwert
Der CDU-Europaabgeordnete Dennis Radtke beschäftigt sich als Mitglied im Sozialausschuss viel mit prekären Arbeitsverhältnissen, auch im Transportwesen. „Die Unternehmen haben nicht gezahlt, weil sie durch das Lieferkettensorgfaltspflichtgesetz dazu verpflichtet worden wären. Sondern weil sie wollten, dass das Thema aus der Öffentlichkeit verschwindet“, sagt er der taz. Das Lieferkettengesetz sieht er als stumpfes Schwert an. Unternehmen wie Mazur könnten weitermachen wie bisher, da es keine wirksamen Mittel gebe, um die Regeln, die das Mobilitätspaket geschaffen habe, auch durchzusetzen.
Daher setzt Radtke auch nicht auf das EU-Lieferkettengesetz, zu dem die Verhandlungen diese Woche weitergehen. Er hofft, dass die Europäische Arbeitsbehörde ELA für bessere Arbeitsbedingungen in der Branche sorgt. Diese relativ junge Behörde soll 2024 evaluiert werden. Das sieht Radtke als Chance an, um ihr neue Kompetenzen zu erteilen. Radtke will, dass die ELA künftig selbst ermitteln kann und mit anderen EU-Behörden wie Europol und Eurojust zusammenarbeitet. „Die Zustände im Transportwesen sind verheerend“, sagt er. „Wir sind aber schon weit gekommen und auf einem guten Weg, das abzuschaffen.“
Zudem wollen Radtke und die SPD-Europpolitikerin Gabriele Bischoff, dass die EU Beratungsangebote für mobile Arbeitnehmer*innen in ganz Europa finanziert. „Um den Fachkräftemangel zu beheben, setzt Europa gerade stark auf die Anwerbung von Arbeitskräften aus Drittstaaten. Dabei muss verbindlich sichergestellt werden, dass diese Arbeitnehmer*innen auch fair behandelt und entlohnt werden“, sagt Bischoff.
Ein paar Schritte vor, ein paar zurück: Auf taz-Anfrage erklärte die Staatsanwaltschaft Darmstadt, bisher seien die Anzeigen von Mazur gegen die Fahrer nicht zurückgezogen worden. Mehrere Länder, darunter Litauen und Rumänien, haben gegen Teile des Mobilitätspakets geklagt. Sie wollen die Pflicht, dass die Lkws alle acht Wochen zurück zum Firmensitz gebracht werden muss, kippen. Leerfahrten lohnten sich nicht. Vergangene Woche gab der Generalanwalt des Europäischen Gerichtshofs den klagenden Ländern recht. Das Urteil wird Anfang 2024 erwartet.
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