Preisverleihung Filmfestspiele Venedig: Ein Herz für Monster
Bei den 80. Filmfestspielen von Venedig gewinnt der Favorit „Poor Things“ von Yorgos Lanthimos in einem Wettbewerb mit kaum ernsthafter Konkurrenz.
War früher doch alles besser? Am Rand der 80. Ausgabe der internationalen Filmfestspiele von Venedig gab es viele Klagen über die Auswahl dieses Jahres. Allen voran im Wettbewerb, doch ebenso erweitert auf das gesamte Programm. Euphorie kam zwar gelegentlich bei dem einen oder anderen Film auf, im Großen und Ganzen aber bleibt der Eindruck eines Jahrgangs, der unter den vertretenen Regisseuren reichlich Prominenz auffuhr, ohne dass diese Höchstleistungen erkennen ließen.
Daraus einen Beleg für den Niedergang des Kinos als Kunstform ableiten zu wollen, ist ein wohlfeiler Befund. Doch oft erschienen bei den Filmen dieser „Mostra“ die Drehbücher arg routiniert und die Regie wenig bemüht, sie mit riskanten Einfällen in Überraschendes zu verwandeln. Oder war die Lage vor 50 oder 25 Jahren auch nicht viel anders?
Ein Regisseur mit Mut zum ungewohnten Ansatz war es am Ende, den die Wettbewerbsjury unter Vorsitz des Regisseurs Damien Chazelle mit dem Goldenen Löwen auszeichnete. Der Grieche Yorgos Lanthimos hatte mit „Poor Things“ schon früh die Mehrheit der Kritik hinter sich vereint. Sein zwischen Schwarz-Weiß und Farbe wechselnder surrealer Beitrag zum Frankenstein-Vermächtnis mit einer Protagonistin als Monster, deren Entwicklung man als feministischen Dreh des Themas verstehen kann, hat schrecklich schöne Figuren. Auf ganz unterschiedliche Weise faszinierend verkörpert von Emma Stone als „Monster“, Willem Dafoe als ihrem Schöpfer und Mark Ruffalo als ihrem windigen Liebhaber.
Lanthimos wirft einen in eine Fantasiewelt voll wunderlich proportionierter Bauten und Räume, schickt seine Hauptfigur auf eine Entdeckungsreise, auf der sie sich siegreich gegen die berechenbaren Erwartungen der Männer durchsetzt, mit konsequent unberechenbarem Verhalten. Dass es gerade ihre Naivität ist, die sie so unbefangen auftreten und handeln lässt, ist der einzige Schwachpunkt dieser Emanzipationserzählung. Zumindest scheinen noch andere Wege zur Emanzipation möglich.
Jurypreis für einen weiteren eigenwilligen Regisseur
Mit dem Großen Jurypreis für „Evil Does Not Exist“ des Japaners Ryūsuke Hamaguchi erhielt ein weiterer eigenwilliger Regisseur verdient einen der Hauptpreise. Sein Spielfilm über eine dörfliche Gemeinschaft und ihr Bemühen, möglichst respektvoll mit der umgebenden Natur umzugehen, beginnt realistisch-nüchtern, mischt nach und nach Züge einer Satire auf die Strategien von Investoren und die von ihnen beschäftigten Agenturen darunter, um in ein rätselhaftes Finale zu münden, das dem Publikum die Auflösung der Handlung vorenthält. Ohne dass man davon enttäuscht sein muss.
Zum Gelingen trägt hat auch die instrumentale Filmmusik der Singer-Songwriterin Eiko Ishibashi bei, die fein zwischen friedfertig und mysteriös changiert.
Teile der Preise gingen an engagiertes Kino, so der Spezialpreis für die Filmemacherin Agnieszka Holland und ihr in Schwarz-Weiß gehaltenes Drama über die polnisch-belarussische Migrationskrise, „Green Border“, das aus verschiedenen Perspektiven die Lage der an der Grenze der beiden Staaten festsitzenden geflüchteten Menschen schildert. Man hätte ihr ebenso den Regiepreis zugestehen können, zeichnet sie das Bild der verfahrenen politischen Situation doch mit ebenso viel Unerbittlichkeit wie Umsicht.
Den Regiepreis erhielt stattdessen ihr italienischer Kollege Matteo Garrone. Mit „Io capitano“ hat er eine Art Gegenstück zu Hollands Beitrag gedreht. Seine Protagonisten, die Jugendlichen Seydou und Moussa, machen sich aus dem Senegal auf den Weg durch die Wüste, um über das Mittelmeer nach Italien zu gelangen. Die beiden Laiendarsteller Seydou Sarr und Moustapha Fall übernehmen diese Rollen mit überzeugenden Darbietungen, Sarr wurde mit dem Marcello-Mastroianni-Preis für junge Schauspieler gewürdigt. Man hätte ihnen bloß etwas mehr Gelegenheit gewünscht, um ihre Figuren mit noch mehr Eigenleben versehen zu können.
Wie Holland hat Garrone den richtigen Stoff gewählt, um ungelösten Missständen den gebührenden Raum auf der Leinwand zu bieten. Garrone, der zum Teil in Marokko gedreht hat, gedachte in seiner Dankesrede zudem der Opfer des Erdbebens am Freitag.
Darstellerpreise für Peter Sarsgaard und Cailee Spaeny
Aktuelle Dinge ganz anderer Art verhandelt der mexikanische Regisseur Michel Franco in seinem Drama „Memory“. Die Hauptdarsteller Jessica Chastain und Peter Sarsgaard begegnen sich darin als zwei gegensätzlich angelegte Figuren, die auf ihre Weise gleichermaßen mit dem Thema Erinnerung konfrontiert sind. Sarsgaard spielt einen Mann, der an Demenz erkrankt ist, Chastain eine Frau, die über frühen sexuellen Missbrauch als Jugendliche zur Alkoholsüchtigen wurde.
Sarsgaards präzise zurückgenommenes Spiel macht sein Leiden schmerzhaft greifbar. Völlig korrekt der Darstellerpreis Coppa Volpi für ihn, ein weiterer Preis für Michel Franco, der die Erzählung meisterhaft lange in der Schwebe hält, wäre zusätzlich gerechtfertigt gewesen.
Sarsgaards US-amerikanische Kollegin Cailee Spaeny galt schon im Vorfeld als eine mögliche Kandidatin für den anderen Darstellerpreis. Ihre Titelrolle in Sofia Coppolas Biopic „Priscilla“ über Priscilla Presleys Ehe mit Elvis, die sie mit einer austarierten Mischung aus Bescheidenheit und Entschlossenheit interpretiert, wurde erwartungsgemäß zu Recht ausgezeichnet.
Außerhalb des Wettbewerbs gab es verstreut Anlass zur Freude, vorneweg Quentin Dupieux’ „Daaaaaali!“, einer elektrisierend albernen Hommage an Salvador Dalí, den Star des Surrealismus.
„Aggro Dr1ft“ hätte auch in den Wettbewerb gehen können
Wie Dupieux’ Film außer Konkurrenz lief einer der seltsamsten Filme des Jahrgangs, „Aggro Dr1ft“ von Harmony Korine. Seine in Infrarottechnik gedrehte Farborgie aus Rot und Gelb spielt in einer enthemmt der Gewalt frönenden Welt, in der Dämonen über die Menschen wachen, unterlegt mit dröhnenden Synthesizerpulsen. Diesen kontrovers aufgenommenen Beitrag, der einiges zum Zustand der Welt zu sagen hat, hätte man durchaus im Wettbewerb riskieren können.
Eine gelungene Simulation eines Dokumentarfilms präsentiert der Regisseur Robert Kolodny mit „The Featherweight“ in der Nebenreihe „Orizzonti“. Angelehnt an die Biografie des Federgewicht-Boxchampions Willie Pep, erweckt der Film mit seinen dezent verrauschten Bildern den Eindruck, ein Filmteam begleite in den sechziger Jahren den echten Willie Pep bei seinen Bemühungen um ein Comeback. Die authentische Wirkung erzielt der Film zugleich durch seinen passgenau besetzten Hauptdarsteller James Madio.
Eine erfreulich energische Komödie stellte die kanadische Regisseurin Ariane Louis-Seize mit „Vampire humaniste cherche suicidaire consentant“, dem Film mit dem längsten Titel im Programm, schließlich in der Reihe „Giornate degli autori“ vor. Die titelgebende humanistische Vampirin namens Sasha kann zwar Blut sehen, jedoch keine Gewalt gegen Menschen, was für die Heranwachsende zum Überlebensproblem zu werden droht. Bis sie den lebensmüden Jugendlichen Paul trifft, der sich ihr anbietet.
Gutes Tempo, treffende Situationskomik und ein Drehbuch, das den Rahmen dieser speziellen Coming-of-Age-Romanze nie aus dem Blick verliert, kamen dabei so glücklich zusammen, dass sie am Ende mit dem Hauptpreis der Reihe prämiert wurde. Für das Kino besteht Aussicht auf mehr Leben, wie es scheint.
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