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Pramila Patten über sexualisierte Gewalt„Billig und wirksam“

Patten ist UN-Sonderbeauftragte für sexualisierte Gewalt. Hier spricht sie über schleppende Ermittlungen, Verletzlichkeit und den Krieg in der Ukraine.

„Ein gefährliches Nebendrodukt dieses Krieges ist der Menschenhandel“: Die UN-Sonderbeauftragte für sexualisierte Gewalt in Konflikten, Pramila Patten Foto: Li Muzi/Xinhua/imago
Interview von Pilar Safatle

taz: Frau Patten, Sie sind UN-Sonderbeauftragte für sexualisierte Gewalt in Konflikten. Wer beobachtet die Lage aktuell in der Ukraine?

Pramila Patten: Viele verschiedene Akteure beobachten und dokumentieren Fälle von sexualisierter Gewalt, auch die ukrainischen Behörden selbst, wobei die Generalstaatsanwaltschaft die Sammlung von Beweisen und die Untersuchung der Fälle leitet. Es gibt auch ein Team des Internationalen Strafgerichtshofs und natürlich viele nationale und internationale NGOs. Ich arbeite mit den Daten vom Büro des UN-Hochkommissariats für Menschenrechte, dessen Beobachtungsteam ist bereits seit 2014 (Anm. d. Red.: seit der Annexion der Krim durch Russland und dem Krieg im Donbass) in der Ukraine aktiv.

Und was sagen die aktuellen Zahlen des Beobachtungsteams?

Das Büro des UN-Hochkommissariats hat bis zum 3. Juni 124 bestätigte Fälle von sexualisierter Gewalt gegen Frauen, Kinder und in geringerer Zahl auch Männer erfasst. Die mutmaßlichen Täter gehörten in 102 Fällen den russischen Streitkräften und in zwei Fällen russischen bewaffneten Gruppen an. Die Überprüfung weiterer Fälle dauert an.

Diese Zahl erscheint niedrig…

Nicht alle gemeldeten Fälle sind überprüfbar, da viele von ihnen anonym sind und über Hotlines von Organisationen wie Unicef und den UN-Bevölkerungsfonds (UNFPA) eingehen. In Fällen, bei denen es konkrete Anhaltspunkte gibt, wird die Verifizierung durch die schwierige Sicherheitslage erschwert. Die Überprüfung nimmt also viel Zeit in Anspruch.

Diese Ermittlungen durchzuführen fällt allerdings nicht in den Aufgabenbereich des UN-Büros für sexualisierte Gewalt. Es gibt dafür eine gesonderte Untersuchungskommission. Die ­ukrainische Generalstaatsanwaltschaft hat verschiedene Länder um Unterstützung durch forensische Experten gebeten. Sie sollen helfen, Beweise zu sammeln. Mein Büro entsendet ebenfalls Experten, auch für die Vorbereitung der juristischen Strafverfolgung.

Kann man von einer mangelhaften Datengrundlage sprechen?

Die tatsächlichen Zahlen spielen für mich eh kaum eine Rolle, weil ich weiß, dass die verfügbaren Daten niemals die tatsächliche Situation widerspiegeln. Sie bilden nur die Spitze des Eisbergs ab, denn es handelt sich um ein Verbrechen, über das chronisch zu wenig berichtet wird. Ich erwarte aber auch keine genauen Daten, meine Priorität seit Februar sind Prävention und der Schutz und die Versorgung der Opfer.

Im Interview: Pramila Patten

Jahrgang 1958, wurde im April 2017 von UN-Generalsekretär António Guterres zur Sonderbeauftragten für sexualisierte Gewalt in Konflikten ernannt. Die in Mauritius geborene Juristin war zuvor 14 Jahre lang Mitglied des UN-Ausschusses zur Beseitigung jeder Form von Diskriminierung der Frau (CEDAW).

Gibt es noch andere Ursachen für die schlechte Datenlage?

Es sind immer die gleichen Gründe, warum Fälle nicht gemeldet werden, auch in anderen Konflikten: Stigmatisierung, Scham, Angst vor Ablehnung, Angst vor Repressalien. Für die Überlebenden in der Ukraine besteht die Priorität gerade darin, aus dem Land zu fliehen und einen sicheren Ort zu finden. Nur leider melden sie die Gewalterfahrung auch dann nicht, wenn ihnen die Flucht gelungen ist. Oft suchen sie dann erst mal medizinische Hilfe. Dort müssen wir sichere Räume schaffen, damit die Berichte von Betroffenen erfasst werden können.

Inwiefern steht hinter der sexualisierten Gewalt ein System?

Diese Frage ist verfrüht, denn wir befinden uns erst seit sechs Monaten in diesem Konflikt. Nach den mir vorliegenden Informationen deuten die bisherigen Berichte über sexualisierte Gewalt allerdings nicht auf ­ungeplante Vergewaltigungen hin. Sie zeigen durchaus, dass Vergewaltigungen strategisch eingesetzt werden: um zu demütigen, Angst zu verbreiten, das soziale Gefüge zu zerreißen und den Opfern und ihrem Umfeld zu signalisieren, dass es nirgendwo sicher ist. Es handelt sich zudem nicht um Einzelfälle, und die Berichte kommen überwiegend aus Gebieten, in denen russische Streitkräfte stationiert waren.

Es wurden übrigens auch Fälle sexualisierter Gewalt gegenüber Männern und Jungen gemeldet, von erzwungener Nacktheit, Androhung von sexualisierter Gewalt bis hin zu Vergewaltigung. Auch diese Taten können kaum als ungeplant bezeichnet werden. Ihre Häufung zeigt, dass es auch hier den Tätern darum geht, zu demütigen und kollektive Angst zu schüren.

Wie steht es um die medizinische Versorgung der Opfer?

Die medizinische Infrastruktur in der Ukraine ist allgemein stark beschädigt und so ist auch die Versorgung der Opfer sexualisierter Gewalt sehr lückenhaft. Es gibt Berichte davon, dass Opfer Schwierigkeiten haben, Abtreibungen vornehmen zu lassen. Das ist auch im Ausland teilweise ein Problem. Aus Polen zum Beispiel wird berichtet, dass wegen der dortigen Gesetzeslage keine Notfallverhütung verfügbar sei.

Wir haben deshalb Gespräche mit der polnischen Regierung aufgenommen. Wir wollen erreichen, dass Polen die Situation als humanitäre Notlage einstuft und die reproduktive Gesundheit der Opfer sexualisierter Gewalt gewährleistet. Es ist wichtig, das Augenmerk auch auf die Geflüchteten außerhalb der Ukraine zu legen. Es müssen Schutz- und Präventionsmaßnahmen ergriffen werden, die der Verletzlichkeit dieser Frauen und Kinder Rechnung tragen.

Worin besteht ihre Verletzlichkeit noch?

Ein gefährliches und beängstigendes Nebenprodukt dieses Krieges ist der Menschenhandel. Im Rahmen von Konflikten dient er der sexualisierten Ausbeutung und Zwangsprostitution. Besonders vertriebene Frauen, die mit Kindern und älteren Menschen aus der Ukraine fliehen, sind der Gefahr sexualisierter Gewalt und Menschenhandel ausgesetzt.

Wie sieht es im Rest der Welt aus?

Leider wird sexualisierte Gewalt nach wie vor auch in anderen Konflikten als taktisches Mittel im Rahmen von Krieg, Folter, Terrorismus und politischer Unterdrückung eingesetzt. Der letzte UN-Jahresbericht vom März dieses Jahres zeigt, dass die Zahlen trotz der Pandemie – in der Beobachtungsteams nur noch eingeschränkt Fälle erfassen konnten – stark gestiegen sind. Sexualisierte Gewalt ist billig und wirksam.

Die Täter wissen, dass die Opfer aus Scham und aus Angst vor Stigmatisierung, Ablehnung oder Vergeltung keine Anzeige erstatten. Sie wissen, dass sie ungestraft bleiben werden. Und sie ist wirksam, weil sie darauf abzielt, das soziale Gefüge zu zerstören, und damit nicht nur die Opfer, sondern gleich ganze Gemeinschaften schädigen. In der Demokratischen Republik Kongo zum Beispiel sehen wir darin eine Strategie zur Vertreibung der Bevölkerung. Wenn bewaffnete Gruppen ein Gebiet wegen seiner Ressourcen kontrollieren wollen, vergewaltigen sie als erstes Frauen, Mädchen und Babys. So kann die Bevölkerung schnell vertrieben werden. Leider ist das Bild nicht ermutigend.

Dieses Interview wurde mit der Unterstützung des Internationalen Journalisten Programms (IJP) durchgeführt.

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