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■ Die Linksliberalen haben sich von einer emanzipatorischen Jugendpolitik verabschiedet, statt dessen wollen sie das Böse bekämpfenPotentielle Kriminelle

Nach der Demontage des Rechts auf eine unbelauschte Wohnung ist das Thema organisierte Kriminalität aus den Schlagzeilen verschwunden. Im Mittelpunkt moralischer Aufregung steht wieder die Jugendkriminalität. Es besteht Konsens, daß – in Analogie zur Schluckimpfung – nicht erst reagiert werden darf, wenn es zu spät ist, das heißt Kriminalität nicht nur verfolgt werden darf. Es muß vorgebeugt werden.

Nun, um „Kriminalität“ zu verhindern, muß man die potentiellen Täter schon vor ihrer Tat erkennen. Man beginnt deshalb, kriminogene Milieus und kriminogene soziale Werdegänge zu identifizieren und zu kontrollieren, mit der Folge, daß auch ganz regelgemäßes Verhalten ständig Gefahr läuft, polizeistaatlich behelligt zu werden.

Die Kriminalitätsdebatte bleibt nicht ohne Rückwirkungen auf das linksliberale Milieu. SPD, Bündnis 90/Die Grünen und PDS unterbreiten ihre sozialen Gerechtigkeitsanliegen, für die sie zwar traditionell eintreten, aber kein rechtes Gehör mehr finden, heute als Programm zur Kriminalitätsprävention. Zu diesem Zwecke werden zunächst empirisch unausgewiesene Thesen über die Ursachen von Kriminalität formuliert: Wer arm ist, stiehlt, wer ohne Arbeit ist, raubt und schlägt, wer nicht zur Schule geht, bricht Autos auf. Anschließend werden Jugendsozialarbeit, Arbeitsplätze und Kindergeld gefordert. „Die beste Kriminalprävention ist eine gute Sozialpolitik“, schmettert es einem entgegen. Das ist lieb gemeint, zeitigt aber fatale Folgen. Mit der Debatte um die Jugendkriminalität hat sich ein Paradigmenwechsel im Legitimationszusammenhang von Sozial- und Jugendpolitik vollzogen.

Sozialpolitik wird nicht mehr als Bestandteil einer demokratisierenden Gesellschaftspolitik begriffen. Kaum jemand vertritt noch offen, daß Sozialpolitik das Ziel haben sollte, gesellschaftliche Herrschaftsverhältnisse, die auf ungleicher Reichtumsverteilung basieren, zu mildern und abzubauen, um so Gleichberechtigung zu verwirklichen. Außer Mode geraten ist auch eine Jugendpolitik, die das Recht eines jeden Jugendlichen, sich frei zu entfalten und ein Leben in Autonomie zu führen, zum Ziel hat.

Sozialpolitik erhält ihre Legitimation am ehesten, wenn sie verspricht, Verbrechen zu verhüten. Damit werden die Ansprüche von Sozialpolitik beschnitten, ihre Reichweite begrenzt und ihre Inhalte verformt. Das beginnt bereits auf der Ebene der Wahrnehmung des Problemfelds. Politik interessiert sich für Jugendliche nicht mehr, weil diese vielleicht Probleme haben, sondern weil sie als potentielle Kriminelle in Frage kommen. Jugendliche mögen mit ihrer Situation so unzufrieden sein, wie sie wollen, solange sie niemandem Angst machen, hilft ihnen die Politik nicht mehr weiter. Wo keine Sicherheitsprobleme identifiziert werden, gibt es auch für Sozialpolitik nichts zu tun.

Sozialpolitik tritt so in Konkurrenz zu den polizeilich-repressiven Konzepten der vorbeugenden Kriminalitätsbekämpfung. Es muß nachgewiesen werden, daß soziale Maßnahmen Kriminalität wirksamer zu verhüten vermögen als Null-Toleranz- oder Abschreckungsstrategien. Sozialpolitik seht in dieser Auseinandersetzung von vornherein auf verlorenem Posten. Nicht nur weil ihre Erfolge sich erst längerfristig bemerkbar machen, sondern vor allem weil die Autorität in Law-and-Order-Fragen im öffentlichen Diskurs der Polizei zugewiesen ist.

Jugend- und Sozialpolitik muß zunehmend mit der Effizienz repressiver Sicherheitspolitik konkurrieren. Als Politik zur Herstellung von Gleichberechtigung konnte sie höchstens immanent effizienter gemacht werden. Jetzt muß sich sozialpräventives Kosten-Nutzen-Kalkül gegen autoritär-repressive Kalküle durchsetzen. Das allein wäre schlimm genug. Aber da der Nutzen politischer Nutzen ist und auf der Einnahmenseite nicht erscheint, kommt es in Zeiten leerer Kassen nur auf die Kostenseite an; und da steht Sozialpolitik stets für kostspielige Haushaltstitel. Bevor ein Bezirk die Kosten für die geschlossene Stadtteilbibliothek und das Schwimmbad wieder in den Etat aufnimmt und noch einen Bolzplatz drauflegt, läßt man lieber Fußstreifen patroullieren und veranlaßt ein paar spektakuläre Leibesvisitationen an Dunkelhäutigen.

Über die neue Funktionsorientierung hat sich sowohl der Inhalt als auch die Form von Sozialpolitik im Jugendbereich verschoben. Daß die Stärkung der Autonomie von Jugendlichen Handtaschenraub verhindert, ist selbst für Linksliberale nur schwer nachvollziehbar. Deshalb diskutiert der Lehrerstammtisch lieber, daß nicht zuwenig Rechte, sondern zuwenig Werte, nicht der Mangel an Freiraum, sondern das Fehlen von Grenzen als Ursachen der steigenden Jugendkriminalität auszumachen sind. So lautet inzwischen die parteiübergreifende Zielvorgabe für kriminalitätspräventive Politik: Werte vermitteln durch Grenzen setzen – wie und welche auch immer. Beim Grenzen setzen ergänzen sich dann auf einmal sozialpolitische und autoritär-repressive Prävention vortrefflich.

Das Einschwenken des linken Parteienspektrums auf die Problembeschreibungen der Konservativen zum Thema Innere Sicherheit und sein fehlgeschlagener Versuch, Sozialpolitik als Präventionsprogramm zu etablieren, hat die Jugend- und Sozialpolitik ihrer emanzipatorischen und demokratisierenden Dimension beraubt und zu einer schieren Herrschaftsfunktion herabgewürdigt.

Wie sehr sich die Strategie „Die beste Kriminalitätsprävention ist eine gute Sozialpolitik“ blamiert hat, zeigt sich darin, daß sie auch aus Sicht ihrer Propagandisten bereits überholt ist. Nachdem nachgewiesen ist, daß subjektives Sicherheitsempfinden zwar mit objektiver Bedrohungslage wenig zu tun hat, die Kriminalitätsangst der Bevölkerung aber erfolgreich geschürt ist, wird diese Angst als politisches Thema isoliert und bearbeitet.

„Die Ängste der Bevölkerung ernst nehmen“, ein bei Bündnis 90/Die Grünen beliebter Populismus, faßt das Programm prägnant zusammen. Es wird gar nicht mehr beansprucht, etwas gegen Körperverletzungen oder Erpressungen zu unternehmen. Es soll nur noch auf Emotionen reagiert werden. Das Spektrum reicht dabei von Null-Toleranz (Glogowski) bis zur „Renaissance des Schutzmanns“ (von Plottnitz). In diesem Zusammenhang hat demokratische Gesellschaftpolitik selbst ihren rhetorischen Ort verloren. Florian Rödl

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