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Postpunk-Alben aus BerlinNeues aus der alten Frontstadt

West-Berlin war ein Zentrum des Postpunk. Alben von Hackedepicciotto, Anita Lane und Thomas Wydler & Toby Dammit erinnern daran.

Mauer im Rücken: Alexander Hacke und Danielle de Picciotto alias Hackedepicciotto Foto: Sven Marquardt

Wird West-Berlin uns jemals verlassen? In den letzten Wochen und Monaten sind drei Alben erschienen, deren Künst­le­r:in­nen mit der Frontstadt und ihrem Mythos die eine oder andere Geschichte verbindet. Und auch darüber hinaus gibt es an der Musik interessante Gemeinsamkeiten: Alle Beteiligten steigen schon einmal in flotte Anzüge, und ihre Werke sind, bei aller Unterschiedlichkeit, allesamt hochgradig theater- und leinwandtauglich.

Den Auftakt macht eine bedrohte Idylle. Mit Vogelgezwitscher, in das sie kurz darauf Streicherflächen schalten, eröffnen Alexander Hacke und Da­nielle de Picciotto ihr Duo-Album „The Silver Threshold“. Der heiklen Balance setzen düstere Dronesounds zu, dann erklingt engelsgleicher Gesang. Auf Lateinisch. Im weiteren Verlauf lässt die Musik gelegentlich an einen Spielmannszug denken, der sich vom Mittelalter aus in die Renaissance aufgemacht hat, in anderen Momenten hat es den Anschein, als hätte es die Prozession mittels eines Zeitsprungs in eine nachindustrielle Landschaft verschlagen.

Die Fieldrecordings aus der Fauna erinnern an die Band, mit der Alexander Hacke im Handumdrehen assoziiert wird, die Einstürzenden Neubauten, die die B-Seite ihres fünften Albums „Haus der Lüge“ (1989) mit den Sounds bayrischer Bienen eröffneten und wenig später dann Aufnahmen der berühmt-­berüchtigten West-Berliner ­Riots vom 1. Mai 1987 einsetzten. Auch das war eine Romanze im Angesicht von Gefahr. „The Silver Threshold“ lebt von diesem Kontrast.

Auf die „Ouvertuere“ folgt das elektronisch-pulsierende Titelstück, darauf mit „Meteor Reign“ ein Instrumental, in dem Hackes Experimental- und Noise-Hintergrund und die klassische Ausbildung de Picciottos, sie hat Geige und Klavier gelernt, fusio­nieren. Die US-Amerikanerin Danielle de Picciotto und der gebürtige Berliner Alexander Hacke sind Musik- und Lebenspartner, wobei das eine unbedingt zum anderen gehört. Dem Elektronischen sind beide verbunden, de Picciotto hat einst die Berliner Love Parade mitbegründet, Hacke weiß mit ansteckender Begeisterung von alten Synthesizern zu erzählen.

Die Alben

Hackedepicciotto: „The Silver Threshold“ (Mute/GoodToGo);

Live: 28. März, Berlin, „Silent Green“; 2. April, Hamburg, „Westwerk“;

Anita Lane: „Sex O’Clock“ (Mute/GoodToGo);

Thomas Wydler & Toby Dammit: „Morphosa Harmonia“ (Hit Thing)

Noch weiter zurück gehen sie in einem Stück aus der zweiten Hälfte des Albums: Bei „Meeres Stille“ handelt es sich um die Vertonung eines Goethe-Gedichts. Hackedepicciotto, wie sich das Duo seit einigen ­Alben nennt, macht hier etwas ziemlich Besonderes. Die beiden Künst­le­r:In­nen entstauben einen Klassiker und holen ihn vom Sockel in die Gegenwart.

Auf dem vorangegangenen Album „The Current“ hatten Hackedepicciotto bereits die „Loreley“, das Gedicht Heinrich Heines nach der romantischen Kunstsage Clemens Brentanos, interpretiert. Ein Kniff, dessen sich Hackedepicciotto also nicht zum ersten Mal bedienen, ein ganzes Album tradierter Songs wäre keine schlechte Idee. Bitte dann mit Hackes Version des Ton-Steine-Scherben-Klassikers „Jenseits von Eden“: „Liebe hat schwache Worte“, heißt es darin.

Album mit einem Schicksal

Bei Anita Lane, Co-Autorin mehrerer Songs der legendären australischen Postpunkband The Birthday Party und Texterin des Nick-Cave-Hits „Stranger Than Kindness“, hat Liebe viele Worte. Auf ihrem Album „Sex O’Clock“ singt die australische Künstlerin in dem Song „I Love You, I am No More“: „There’s a kitten raging at the back door / And I don’t know if the kids have eaten / It seems there was some kind of sunset / But I wouldn’t know if I was breathing / I wouldn’t know if I was breathing“.

Liebe hat bei ihr viele Worte: Anita Lane Foto: Joe Dilworth

Einen Rocksong über eine Mutter, die vor lauter Wollen nicht an die Kinder denkt, das gibt es auch nicht oft. Hedonismus, es sei an dieser Stelle ausdrücklich gesagt, gehört zu den anerkennungswürdigen Ismen. „A little love potion, put it in ­motion / Do that thing, that thing that you do / Put a little sugar in my cup / Take your spoon and stir it up“, singt Anita Lane in „Do That Thing“, und wer da an den lüsternen Blues-Klassiker „Need a Little Sugar in My Bowl“ von Bettie Smith denkt oder Nina Simones Interpretation im Ohr hat, liegt nicht falsch.

„Sex O’Clock“ ist ein Album mit einem Schicksal. Erstmals veröffentlicht wurde es zunächst ausgerechnet im September 2001, in der Zeit der brutalen Terroranschläge auf die USA. Die bereits zuvor entstandenen Zeilen haben es damals schwer gehabt, wie auch die seltsam aus der Zeit gefallene Musik auf „Sex O’Clock“: Anita Lane spielt einen vordergründig frivol wirkenden funky Pop, der noch aus dem Easy Listening der neunziger Jahre hinüberzuwehen schien.

Lane hatte in jener Zeit auf den Serge-Gainsbourg-Tributealben ihres Bad-Seeds-Kollegen Mick Harvey mitgewirkt, arrangiert hatte diese Neuinterpretationen des Skandal-Chansonniers der französische Musiker und Produzent Bertrand Burgalat, der dann für Michel Houellebecq wie auch Anita Lane arbeitete. Die Streicherarrangements und das Cognac-Ambiente von „Sex O’Clock“ dürften auch mit auf Burgalats und Harveys Konto gehen.

Ein Song von „Sex O’Clock“ hat es zumindest zu einer gewissen Bekanntheit gebracht: Anita Lanes Version der antifaschistischen Hymne „Bella ciao“ gehörte 2003 zum Soundtrack der Verfilmung von Sven Regeners halb komischer, halb elegischer Kreuzberg-Hommage „Herr Lehmann“. Das Album ist dann doch etwas mehr als ungeniert, und Anita Lane dürfte gut gewusst haben, dass Frivolität Tiefe nicht ausschließt. „Sex O’Clock“ kann seit Kurzem in einer Neuedition wiederentdeckt werden. Leider wird es Anita Lanes­ letztes Album bleiben. Sie ist im April 2021 viel zu früh gestorben.

Freischwingend und unheimlich

Drummer auf „Sex O’Clock“ ist Thomas Wydler. Nach Anfängen in der Schweizer Punkszene in den späten 1970ern, unter anderem in der Band Mutterfreuden, ist Wydler seit 1985 festes Mitglied von Nick Cave & The Bad Seeds und war zuvor auch bei der experimentellen West-Berliner Artrockband Die Haut an den Drums zu hören gewesen.

Im Jahr 2004 hat Wydler gemeinsam mit dem Multiinstrumentalisten Toby Dammit, bekannt von Iggy Pop oder den Residents, ein Album veröffentlicht, dem, genau wie Anita ­Lanes „Sex O’Clock“ die breite Aufmerksamkeit versagt geblieben ist: „Morphosa Harmonia“ besteht ausschließlich aus Instrumentals, wenn man die menschliche Stimme als das Instrument zählt, das sie ja ist.

Fast schon clowneske Atmosphäre: Toby Dammit und Thomas Wydler Foto: Grand Chess

Gesungen wird auf diesem schön Jazz-infiziertem Album nämlich schon, wenn auch ohne Worte. „Morphosa Harmonia“ hat eine eigentümlich freischwingende, fast schon clowneske Atmosphäre. Das schließt das Unheimliche ausdrücklich ein. Im Nick-Cave-Köchelverzeichnis ist Wydler als Mitkomponist des Live-Klassikers „Red Right Hand“ aufgeführt; der sinistre Hit hat es bekanntlich zum Titel-Song der BBC-Gangster-TV-Serie „Peaky Blinders“ gebracht und wurde 2019 sogar von US-Rapstar Snoop Dogg gecovert.

Das mag in etwa andeuten, wohin die Reise auf „Morphosa Harmonia“ geht. Nicht als bloße Illustration, eher als Weiterfühlung und -denken lassen sich die Aquarellmalereien des Berliner Künstlers Martin Eder betrachten. Eder hatte, bevor er „Morphosa Harmonia“ hören konnte, Porträts von Katzen und Frauen fertiggestellt, die auf frappierende Art und Weise mit der Musik Wydlers und Dammits kor­res­pondierten.

„Morphosa Harmonia“ liegt mittlerweile in einer limitierten Kunst-Box mit 180 Gramm Vinyl im Gatefold-Cover und um ein 16-seitiges Kunstdruck-Booklet ergänzt vor. An dieser Stelle sei der Wunsch geäußert, dass Wydlers mit Martin Peter und Yoyo Röhm im Jahr 2000 eingespieltes Tribut-Album für den neoexpressionistischen Maler Walter Stöhrer eine ähnliche Neuauflage erfährt.

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