Porträt Julia Probst: Sehen, was geht
Sie kann fast hundert Prozent des Gesagten von den Lippen ablesen – ein Ausnahmetalent. Hartnäckig kämpft Julia Probst für Inklusion.
Wie Krach aussieht? Komisch sieht es aus, da ducken sich Leute weg, da spannen sie ihre Körper an und suchen mit verkniffenem Gesicht die Quelle des Lärms. Am Kurt-Schumacher-Platz in Berlin ist das zu sehen. Kein anderer so dicht besiedelter Ort in Deutschland liegt näher an einem Flugplatz. Direkt hinter dem Einkaufszentrum dort beginnt die Landebahn. Wenn ein Flugzeug über den Platz fliegt, schauen die, die den Ort nicht kennen, in die Höhe. Andere blicken weiter geradeaus, ziehen die Schultern hoch, werden steif im Gehen. So sieht Krach aus.
Julia Probst – gehörlos – hört ihn, indem sie ihn sieht. Sie sitzt in der Pizzeria direkt am Platz, Schallschutzfenster dimmen den Lärm. Sie schaut raus. Draußen am Fahrradständer wartet ein Hund, sagt sie. Ein Hund. Wo? Probst zeigt auf ihn, sie hat ihn im Blick, schon die ganze Zeit. Der Hund kommt ihr herrenlos vor. Auch er duckt sich, wenn Flugzeuge kommen.
Es ist eine gewaltige Aufgabe, den fehlenden Hörsinn durch Sehen zu ersetzen. „Schauen Sie“, sagt Probst mit wenig modulierter Stimme, „wenn ich ’Butter‘ sage und ’Mutter‘, wo ist der Unterschied an den Lippen?“ Sie sagt „Butter“, sie sagt „Mutter“ – die Mundbewegungen sind gleich.
Trotzdem: Probst sieht den Unterschied, sie kann fast hundert Prozent des Gesagten vom Mund der Sprechenden ablesen. Das ist Rekord. Ihre Augen, blau, registrieren jedes Detail. Selbst wenn sie müde ist, versteht sie noch die Hälfte. Wissenschaftler sagen, dass in der deutschen Sprache nur etwa 15 bis 30 Prozent ablesbar seien, weil es viele solche Wortpaare gebe mit fast gleichen Lippenbewegungen.
Die Verständigung klappt
Probst redet auch. Nicht alle Gehörlosen tun es, da sie ihre Stimme nicht kontrollieren können. Sie dagegen gibt Interviews ohne Gebärdensprachdolmetscher, sie sieht das Gehörte und kommt den Hörenden entgegen, indem sie spricht. Dumpf spricht sie, kratzend, ohne Modulation. Unwichtig. Wichtig ist die Verständigung. Sie klappt. Auch mit dem Kellner – ein netter Typ, der sich verwundert in ihr Gesprochenes hineinhört, Cola und Pizza Hawaii will sie, aber ohne Käse, er versteht.
Dass Probst so gut von den Lippen ablesen kann, dass sie redet, das ist ihr Tor zur Welt der Hörenden. Eines, das sich meist nur von der Seite der Gehörlosen öffnet: Wollen sie von den Hörenden verstanden werden, sind sie es, die um Verständigung ringen. Müssen sie ja, denn als Minderheit mit eigenen Kultur- und Kommunikationstechniken nimmt man sie in der Regel nicht wahr. Erst 2010 wurde das seit 1880 bestehende Verbot der Gebärdensprache an Gehörlosenschulen endgültig aufgehoben.
Wie anstrengend es jedoch ist, einen der fünf Sinne durch einen anderen zu ersetzen, wissen nur die, die das täglich tun. Für Probst heißt das: Jeder, der nicht vorher ihre Homepage liest oder noch das Unnötigste zu ihrer Person fragt, zwingt ihr Aufmerksamkeit ab für Belangloses. Das macht sie unwirsch. Sie will politisch argumentieren, nicht übers Wetter reden. Buh, kalt, buh, warm – damit wird ihre Zeit und Konzentration verschwendet.
Kein Zusatzfeature, sondern Normalzustand
Nur wenige Hörende strengen sich umgekehrt an, in die Welt der Gehörlosen zu gehen. „Selbst an den Gehörlosenschulen können nur 10 bis 20 Prozent der Lehrer und Lehrerinnen die Gebärdensprache“, sagt Probst. Sie zieht ein Gesicht, als würde ihr übel. So zeigt sie: Von Ignoranz wird ihr schlecht.
Mimik ist ein wesentlicher Teil der Kommunikation mit Gehörlosen. Gestik auch. Alles eben, was das Sprechen auf andere Sinnesebenen hebt. Probst, die sich ohne Hilfsmittel in der hörenden Welt verständigen kann, ist politisch aktiv. Sie twittert über Inklusion. Ihr Account heißt @EinAugenschmaus. Über dreißigtausend folgen ihr. Sie hat einen Blog: “Mein Augenschmaus“. Auch da geht es um Barrierefreiheit für Gehörlose.
Und sie hat zweitausend Fans auf Facebook, kommentiert das Weltgeschehen – aus Sicht einer Gehörlosen. Denn schon am Weltgeschehen teilnehmen zu können ist für sie nicht selbstverständlich. In Deutschland wird die Übersetzung von Inhalten im Fernsehen und bei Veranstaltungen in Gebärdensprache sehr lax gehandhabt.
„Man fühlt es.“
„Aber Barrierefreiheit sollte kein Zusatzfeature sein, sondern Normalzustand.“ Den Satz schreibt sie auf und zeigt ihn. Denn wenn es ihr zu lange geht, bis ihr Gegenüber versteht, was sie sagt, kann sie aufs Schreiben ausweichen. Auch das kann sie perfekt – im Gegensatz zu vielen Gehörlosen. „Ja“, sagt sie, „ich bin ein Ausnahmetalent.“
Wie das kommt? Sie sei eben ganz normal aufgewachsen, sei auf ganz normalen Schulen gewesen, sei ganz normal zur Sprache gekommen. Gebärdensprache hat sie erst mit 17 gelernt. Sie ist bei Ulm groß geworden, ihr Vater ist Algerier, „ich habe eine normale Kindheit gehabt“, sagt sie. Gut, sie sei im Gehörlosenkindergarten gewesen, aber danach spielte sie mit Nachbarskindern auf der Straße, im Wald. „Ein Problem, dass ich nicht hören konnte, war es nicht.“ Einziges Gebot: „Wenn es dunkel wird, kommst du heim.“ Sie wollte auch Flöte lernen und hat Flöte gelernt. Wie? „Man fühlt es.“
Allerdings redet sie nicht gerne über Herkunft und Familie. Sie klammere das in Interviews aus, auch was sie arbeitet, sagt sie nicht. Warum nicht? „Es hat mit dem Thema an sich nichts zu tun.“ Das Thema sei nicht sie, sondern die Diskriminierung von Minderheiten. Deshalb ist sie vor ein paar Monaten auch nach Berlin gezogen. Hier ist die Gehörlosenszene größer und hier könne sie den Politikern besser auf die Nerven gehen.
Nicht ganz Einzelkämpferin
Dabei ist Probst doch vor allem Einzelkämpferin. „Vereinsmeierei liegt mir nicht.“ Sie erzählt, dass sie 2010 beim Tag der offenen Tür im Bundeskanzleramt war und sich beschwerte, weil es keine Übersetzung für Gehörlose gab. 2011 war sie wieder dort, und es hatte sich nichts geändert. Da habe sie sich bei einer Diskussion mit Frau Merkel gemeldet und gefragt, wie sie etwas verstehen soll ohne Gebärdensprachdolmetscher? Man wolle sich kümmern. 2012 war der Dolmetscher da. Auf ihrem Blog steht: „Ich kann sehr, sehr, sehr, sehr hartnäckig sein.“
Dort steht auch, dass sie Hunde liebt, keinen Alkohol trinkt, nicht raucht, zehn Bücher in der Woche liest und ihr Gebärdenname übersetzt „Die mit den langen Wimpern“ heißt.
Ganz Einzelkämpferin indes ist sie nicht. Sie war bis 2014 in der Piratenpartei, war zur letzten Bundestagswahl auch auf der baden-württembergischen Landesliste für die Partei aufgestellt. Dass das mit den Piraten möglicherweise nicht weitergeht, ist ihr klar. „Die Piraten kommen nicht mehr auf die Beine“, sagt sie, „aber besser Piratenpartei als AfD. Die sind zum Kotzen.“ Und die FDP erst.
Eigensinnig und misstrauisch
Probst, die sich selbst einen „Mimikjunkie“ nennt, sieht aus, als würde sie sich nun endgültig übergeben. Sie erzählt, dass sie ihre Freunde warnte, als sie die FDP im Wahlkampf sah: „Die machen Versprechen, die sie nicht halten können, seht ihr das nicht?“ Was sehen Sie, was andere nicht sehen? „Herrschaftsgesten“, sagt sie, und nach einem Beispiel gefragt, erklärt sie es am Händeschütteln.
Dafür gebe es verschiedene Möglichkeiten, den ranghöheren Status festzulegen. Politiker legten ganz gern ihre Hände auf die Hände von ihrem Gegenüber, wenn sie sie schütteln, erklärt sie. „Das heißt doch: Ich drück dich nach unten. Ihr Hörenden seht nicht, weil ihr aufs Hören fixiert seid“, sagt sie.
Probst ist Aktivistin, eine eigensinnige, eine misstrauische. So viel Anstrengung wird ihr abverlangt, um etwas zu erreichen: Untertitelung von Filmen, Anerkennung der Gehörlosenkultur, Anerkennung als Minderheit, Warnung vor der Zerstörung der Gehörlosenkultur, indem zu viele Hoffnungen geschürt werden, dass technische Hilfsmittel das Hören doch zurückbringen könnten.
Nach zwei Stunden Gespräch ist sie müde, will nicht mehr. Sie will mit sich sein. Der Hund draußen ist immer noch herrenlos. Sie bleibt im Restaurant sitzen, wartet, beobachtet das Tier. Später mailt sie, dass es noch eine Stunde dauerte, bis sein Besitzer kam.
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