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Porajmos-Gedenktag in Bremerhaven„Auch Sinti und Roma wurden erfasst, entrechtet und verfolgt“

Die Aufarbeitung der NS-Verfolgung der Sinti und Roma begann 35 Jahre nach Kriegsende. Am 16.12. wird in Bremerhaven der Gedenktag begangen.

Wendepunkt in der Aufarbeitung: Roma-Protest im ehemaligen Konzentrationslager Dachau 1980 Foto: Documentation and Cultural Centre of German Sinti and Roma

Interview von

Amanda Böhm

taz: Herr Larze, jedes Jahr am 16. Dezember gedenken Sie der Verfolgung und Ermordung der Sinti und Roma im Nationalsozialismus. Wie wird diese Verfolgung aufgearbeitet?

Roberto Larze: In den 40 Jahren Vereinsarbeit konnten wir da politisch schon einiges erreichen. So wurden wir beispielsweise in die Minderheitencharta aufgenommen. Und in Berlin steht ein Mahnmal für die im Nationalsozialismus ermordeten Sinti und Roma. Auch in Bremerhaven erinnert eine Gedenktafel an der Karlsburg an die 101 Sinti und Roma, die im März 1943 aus Bremerhaven über den Bremer Schlachthof nach Auschwitz deportiert wurden. Und auch wir legen jährlich am 16. Dezember einen Kranz nieder, um an den Auschwitz-Erlass und die nationalsozialistische Verfolgung der Sinti und Roma zu erinnern. Aber es gibt noch immer zu wenig Aufklärung darüber, dass auch wir eine verfolgte Gruppe waren.

taz: Warum gibt es darüber so wenig Wissen?

Bild: Stefan Schmidbauer/Imago
Im Interview: Roberto Larze

Jahrgang 1971, ist Vorsitzender des Bremerhavener Sinti-Vereins e.V.

Larze: Das fängt schon bei der Bildung an: Nur sehr wenige wissen, was Sinti und Roma im Nationalsozialismus erlebt haben. Wie Juden wurden auch Sinti und Roma im Nationalsozialismus erfasst, entrechtet und verfolgt. Mit dem sogenannten „Auschwitz-Erlass“, an den wir ja am 16. Dezember erinnern, wurden Sinti und Roma in Konzentrationslager deportiert. 500.000 Sinti und Roma wurden umgebracht. Es bleibt jedoch leider eine Randnotiz, dass auch Sinti und Roma im von den Nazis besetzten Deutschland vernichtet wurden. Es hat sehr lange gedauert, bis die Aufarbeitung des nationalsozialistischen Völkermords an den Sinti und Roma beginnen konnte.

taz: Warum begann diese Aufarbeitung so spät?

Larze: Viele NS-Verbrecher sind auch nach der Befreiung an der Macht geblieben. Die sogenannten „Wiedergutmachungszahlungen“ wurden – wenn überhaupt – oft viel zu spät gezahlt. Für diese Wiedergutmachungszahlungen mussten Betroffene Ärzten gegenübertreten, die schon während dem Nationalsozialismus praktiziert haben. Bei diesen Ärzten, aber auch bei der Polizei oder Justiz war Antiziganismus noch immer allgegenwärtig.

Gedenkveranstaltung

mit Kranzniederlegung zur Erinnerung an die Verfolgung und Ermordung der Sinti und Roma. Am 16.12. um 17:30 Uhr an der Gedenktafel Karlsburg, Karlsburg 4, Bremerhaven. Anschließender Festakt „40 Jahre Bürgerrechtsarbeit“ ab 18 Uhr in die Aula der Hochschule Bremerhaven. Um Anmeldung zum Festakt unter info@bremerhavener-sinti-verein.de wird gebeten.

taz: Was hat sich dann verändert?

Erst 1982 hat Helmut Schmidt anerkannt, dass Sinti und Roma während des Nationalsozialismus aus rassistischen Gründen verfolgt wurden

Larze: 1980 traten zwölf Sinti in der KZ-Gedenkstätte Dachau in den Hungerstreik. Unter ihnen waren drei Überlebende. Dieser Hungerstreik hat großen politischen Druck ausgelöst und viel Aufmerksamkeit auf das Thema gelenkt. Zwei Jahre später hat Helmut Schmidt anerkannt, dass Sinti und Roma während des Nationalsozialismus aus rassistischen Gründen verfolgt wurden. Aber das war erst 1982!

taz: Wie nehmen Sie den Antiziganismus heute wahr?

Roberto Larze: Ich lebe und arbeite in Bremerhaven. Bremerhaven ist durchaus eine weltoffene Stadt. Wir spüren hier zum Glück wenig Antiziganismus. Das heißt jedoch nicht, dass Antiziganismus nicht trotzdem gegenwärtig ist. Der Zentralrat der Sinti und Roma und die Landesverbände kämpfen dagegen. In der Gesellschaft gibt es noch immer viele Anfeindungen, Klischees und Unwissen. Bei der Antiziganismus-Stelle in Berlin kann man Diskriminierungserfahrungen und Übergriffe anonym melden. Von 2024 auf 2025 hat sich die Zahl der Übergriffe verdoppelt. Und wir müssen davon ausgehen, dass die Dunkelziffer deutlich höher ist.

taz: Sinti und Roma wird oft Heimatlosigkeit unterstellt. Dabei leben Sinti und Roma schon seit hunderten von Jahren im deutschsprachigen Raum.

Larze: Genau, wir sind Teil dieses Landes! Uns gibt es schon sehr lange, auch wenn von dem Leben von Sinti und Roma in Deutschland leider nur wenig dokumentiert wurde. Wir wissen allerdings, dass Sinti und Roma bereits vor 700 Jahren in Deutschland lebten. Als Verein versuchen wir, in einer kleinen Ausstellung unsere Arbeit und das Leben von Sinti und Roma in Bremerhaven zu dokumentieren. Die Großmutter meiner Frau hat beispielsweise schon 1904 in Bremerhaven gelebt.

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1 Kommentar

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  • Die Chance als deutscher "Zigeuner" im Lande zu überleben war in etwa so niedrig wie die als "Jude". Obwohl die Sinti und Roma eigentlich noch die "arischsten" Menschen waren, zumindest wohl recht frische indische Vorfahren hatten. Doch mit Logik hat es Rassismus ja selten.