Pop von Christine and the Queens: Gender-Bender mit Bionic Boogie

Poetische Texte, Chanson-Inspiration, Pop-Beats – mit diesem Mix erobert die queere Pop-Ikone Christine and the Queens den Musik-Mainstream.

Queerpop-Ikone Christine and the Queens

In-your-face-Pop: Héloïse Letissier alias Christine and the Queens Foto: Suffo Moncloa

Und alle fragen: Ist sie also ein Mann geworden? Nein. Sie beschreibt sich selbst als „phallische Frau“. Das sei eine Frau, die lustbetont und ehrgeizig ist und keine Angst davor hat, über ihr Verlangen zu sprechen. Das Ziel der französischen Künstlerin Christine and the Queens alias Héloïse Letissier war von Anfang an, die Grenzen zwischen Rollenbildern zu verwischen.

In dem Fall des 30-jährigen Popstars heißt das: sich über Outfits, Gesten und Tanzschritte männliche Codes anzueignen. Ihr Lieblingsmove: Michael Jacksons Hüftschwung. Der sitzt wirklich einzigartig. Für ihr zweites Album ist die queere Künstlerin noch einen Schritt weiter gegangen und hat aus Christine and the Queens einfach nur „Chris“ gemacht, ein muskulöses, selbstbewusstes, noch androgyneres Alter Ego.

Der Song „Girlfriend“, der ihre Verwandlung am besten zeigt, entstand gemeinsam mit dem kalifornischen Produzenten und DJ Dâm-Funk, eines Meister des Bionic Boogie und G-Funk. „Girlfriend“ klingt anders als Christines bisheriger minimalistischer, elektronischer Pop.

Das Rezept: Ein groovy Sample einer Musiksoftware, das in Frankreich einige ungerechtfertigte Plagiatsvorwürfe auslöste, verspielte Gitarrenriffs à la Prince, eine feine Synthesizer-Hookline und den für die Künstlerin typisch präzise ausgearbeiteten Rhythmus. Wenn der Refrain einsetzt und Chris singt: „Girlfriend, don’t feel like a girlfriend. But lover. Damn I’d be your lover“, ist die Verwandlung zum Macho komplett. Und der Moonwalk im Wohnzimmer vorprogrammiert.

Au Revoir altes Ich

Doch das alte Ich der Sängerin ist nicht verschwunden. Ihr stimmungsvoller, melodiöser elektronischer Pop kommt besonders im Song „5 Dollars“ raus. Hier spielt sie neben Synthesizer und federnden Beats mit Pianoakkorden und weichen Chören, die sich fast schon kitschig in die Höhe schwingen und ironisch zum Inhalt des Liedes stehen: eine Prostituierte, die jede Nacht um ihre 5 Dollar kämpfen muss. „Eager and unashamed“ natürlich, denn Chris steht zu dem, was er oder sie ist. Chris’ klare, manchmal zerbrechlich, manchmal frech grölende Stimme geht direkt ins Ohr und nicht wieder heraus.

Christine and the Queens: "The Walker/La Marcheuse" (Caroline International/Universal)

live: 15. Oktober in der Columbiahalle in Berlin

Alter Egos wie Chris sind aber keine aufgepinselten Masken. Sie entstehen unter anderem, weil KünstlerInnen sie brauchen, um mit der Welt und dem Rummel um sie herum klarzukommen. Chris repräsentiert eine andere, männliche Seite, die sie sich oft nicht getraut hat auszuleben, erklärt die Sängerin. Damit wird das Alter Ego zu viel mehr als nur einer Rolle. Sie wird zu einer wahren Identität: zum Queersein.

Letissier kreiert mit dem Sound auf „La Marcheuse“ eine Projektionsfläche, auf der sich völlig unterschiedliche Menschen wiederfinden

An Rummel dürfte es der jungen Künstlerin aus Nantes trotzdem nicht fehlen. In Deutschland ist Chris(tine) bisher kaum bekannt. In Frankreich schlug sie allerdings nach der Veröffentlichung ihres Debütalbums „Chaleur humaine“ (2014) ein wie eine Bombe. Auszeichnungen bei renommierten französischen Musikpreisen, zahlreiche Auftritte im Radio und Fernsehen. Sogar Madonna holte sie während eines Konzerts in Paris auf die Bühne – auf ausdrücklichen Wunsch der Popikone!

Perfekt choreografiert

In den USA, wo sie 2016 ihr Album auf einer Tournee vorstellte, kam die Sängerin ebenfalls gut an. Sie trat in den TV-Shows von Trevor Noah und Jimmy Fallon auf und zeigte perfekt choreografierte Tanzshows zwischen Street Dance und Pina Bausch. Dank ihres Erfolgs außerhalb Frankreichs brachte das Magazin Time sie auf das Titelbild seiner Europa-Ausgabe.

Das Verrückte: Für US-Amerikaner, so sagte Letissier in einem Interview mit dem Sender France 2, ist sie nicht nur anziehend, weil sie eine androgyne Frau ist, sondern auch, weil sie diesen französischen Touch hat. Letissier bietet offensichtlich eine Projektionsfläche, auf der sich viele verschiedene Menschen wiederfinden. Sicherlich sind ihre internationalen Ambitionen auch der Grund, dass es diesmal eine englische und französische Version auf zwei Tonträgern gibt. Trotzdem vermischen sich beide Sprachen wie auf ihrem Debütalbum noch.

Dabei gelingt es Chris oft, ihre poetischen Texte, inspiriert vom französischen Chanson-Universum, zu übersetzen. Manchmal bleiben diese unübersetzbar. Wie etwa bei dem melancholischen Titel „Je suis forever machin-chose“, auf Deutsch in etwa „Ich bin für immer dieses Ding“. Darin singt Chris darüber, sich geschlechtslos zu fühlen und deshalb in der Schule gehänselt worden zu sein. In der englischen Fassung wird daraus „I’m forever what’s-her-face?“, ein umgangssprachlicher Ausdruck für ein blasses no-name Gesicht, das schnell wieder vergessen ist. Ähnlich, aber nicht so aussagekräftig. Der Song berührt dennoch. Wie die Musik von „La Marcheuse“, mit der Chris in Frankreich nun als queere Popikone im Mainstream ankommt.

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