Pop-Kultur Festival in Berlin: Lob der Verwirrung
Barrierefrei, kompliziert und voller Selbstreflexion: Das Berliner Festival „Pop-Kultur“ beweist, dass es mehr kann als nur BDS-Skandal.
So verwundert nicht, dass hier Musik nicht nur gefeiert wird, sondern die Reflexion darüber, wie Popkultur zum gesellschaftlichen Fortschritt beitragen kann, in das schön wuchernde Programm eingebaut ist; neben zahllosen Konzerten gibt es Talks, Filme und mehr. Die Metaebene macht es nicht nur zum diskursträchtigsten der hiesigen Musikfestivals, sondern auch zum „offiziellsten“: „Pop-Kultur“ wird vom Land und vom Bund gefördert, auch EU-Mittel fließen.
Bei der Eröffnungsveranstaltung am Mittwoch führt das zu einem „Wir sind die Guten“-Schulterklopfen zwischen Kultursenator Klaus Lederer, den Kuratoren Martin Hossbach und Christian Morin und der Festivaldirektorin und Geschäftsführerin des veranstaltenden Musicboards Berlin, Katja Lucker. Man feiert sich als Avantgarde mit internationaler Strahlkraft. Ganz konkret geht es auch darum, für neue Finanztöpfe zu trommeln, denn die drei Jahre sind vorbei, in denen es 500.000 Euro vom Bund gab.
Aus denen wurden bislang die sogenannten Commissioned Works finanziert, besondere Auftragsarbeiten: In diesem Jahr war so etwa eine leicht alberne, aber durchaus für gute Laune sorgende Popinszenierung von Richard Wagners „Ring“ zu erleben, eine Kollaboration zwischen dem Indie-Chansonnier Jens Friebe und der Band 21 Downbeat. Letztere besteht aus Mitgliedern des Inklusionstheaters RambaZamba.
Oder eine knackig kurze und dabei schön auf den Punkt gebrachte Performance des Wiener Cloudrapperinnen-Duos Klitclique; auf geil runtergebrochene Weise brachten sie Kunst mit Kunstbetriebssatire zusammen. Oder die sehr ans Herz gehende Zusammenarbeit der Pianistin Lisa Morgenstern mit dem Bulgarian Voices Berlin Chor. Mit ungewöhnlichen Rhythmen und Phrasierung bündelten sie die Aufmerksamkeit des Publikums auf eine Weise, wie man es bei Konzerten dieser Art selten erlebt.
Staunen über den Summer of Love
Eine schöne Einstimmung auf die Wechselwirkung zwischen Pop und Gesellschaft liefert der Film „Everybody in the Place: An Incomplete History of Britain 1984–1992.“ In dem diskutiert der bildende Künstler und Turner-Preisträger Jeremy Deller mit Oberstufenschüler*innen, unterfüttert von tollem Archivmaterial, die Wechselwirkung zwischen Rave-Kultur, die Ende der 80er Jahre den zweiten „Summer of Love“ hervorbrachte, und den politischen Verwerfungen der Zeit, vom Bergarbeiterstreik bis zu Margaret Thatchers Austeritätspolitik.
Das Setting klingt konstruiert, führt aber zu produktiven Beobachtungen. Die Schüler wirken verwirrt, wie anders die Welt vor 30 Jahren war, staunen über Bilder von Raves, wo niemand aufs Handydisplay guckt, und fragen sich, was es wohl mit Menschen macht, sich so unbeobachtet zu fühlen.
Katja Lucker hatte in ihrer Eröffnungsrede die produktive Kraft von Verwirrung gelobt und Ko-Kurator Hossbach den Besuchern mit auf Weg gegeben, man solle doch bitte Sachen angucken, die man nicht kenne, am besten in Sprachen, die man nicht verstehe. Viel in Ost- und Südosteuropa war man unterwegs, das schlägt sich im Programm nieder.
Am Donnerstag gab es eine persönliche Stunde mit der Berlinerin Mascha Qrella, die nach gut 20 Jahren Schaffens als Solokünstlerin, aber auch mit Bands wie Mina und Contriva, nun erstmals Deutsch singt und dabei über ihre DDR-Sozialisation nachdenkt. Qrella spielt Songs, mit denen sie Texte des 1976 aus der DDR in den Westen umgesiedelten Thomas Brasch vertont. Auf das Werk des 2001 Gestorbenen war sie selbst erst vor ein paar Jahren aufmerksam geworden, durch die autobiografische Geschichte seiner Schwester Marion Brasch „Ab jetzt ist Ruhe“.
In einer Hollywoodschaukel sitzend befragt Qrella sich zwischen den Songs mit trockenem Humor zu ihrer eigenen (Künstler)-Biografie. Ein toller Work-in-Progress-Einblick. Im Dezember wird der fertige Brasch-Abend „Woanders“ im Hebbel am Ufer Premiere haben.
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