Pollesch-Inszenierung im Autokino: Gehupt wird trotzdem
Benzingeruch und Popcorn. Mit seinem Stück „Stadion der Weltjugend“ belebt Regisseur René Pollesch etwas fast Vergessenes wieder: das Autokino.
![Menschen neben Autos vor einer Kinoleinwand Menschen neben Autos vor einer Kinoleinwand](https://taz.de/picture/1312381/14/Pollesch_Autokino_050716.jpeg)
Es könnte kaum romantischer sein. Die untergehende Sonne taucht die Felder rund um den Parkplatz des Autokinos in Kornwestheim, einem Vorort von Stuttgart, in goldenes Licht. Es riecht nach warmem Beton und Popcorn, als man am alten Kassenhäuschen vorbei auf den Parkplatz rollt. Über der Einfahrt heben sich die großen Metalllettern „Stadion der Weltjugend“ gegen den Freitagabendhimmel ab. Menschen lehnen an ihren Autos, rauchen, reden und trinken Bier. Kein Instagramfilter könnte so viel romantische Nostalgie über einen Moment legen, wie sie vor Beginn von René Polleschs Inszenierung spürbar ist.
Obwohl die riesige Wand, auf die das live gespielte Stück projiziert wird, noch leer bleibt, befindet man sich gefühlt längst im ersten Akt. So fremd, so spannend kommt einem dieses Setting des Autokinos vor, das in einer Gegenwart von medialer Dauerberieselung seine Berechtigung verloren zu haben scheint. Die kindliche Euphorie, mit der sich Zuschauer zwischen Autotüren fragen, auf welcher Frequenz die Tonspur zu empfangen sei, macht den Autokinobesuch zum vergessenen Abenteuer, was neu entdeckt werden könnte.
Schon dröhnt wie die Versprechung eines cineastischen Feuerwerks orchestrale Actionfilmmusik aus den Autoradios. Als Potpourri großer Kinohelden erscheinen Julischka Eichel im gelben Kill-Bill-Kostüm, Manuel Harder und Christian Schneeweiß in karierten Detektivfummeln, Abak Safaei-Rad als Filmdiva und Martin Wuttke mit „Der Pate“-Oberlippenbart riesig auf der Leinwand. Immer dicht gefolgt von einem Kamerateam. Gespielt wird mal unter oder mal neben der Leinwand.
In Anlehnung an „Bullit“, den Film, mit dem das Autokino Kornwestheim 1969 eröffnete, rauscht die Gruppe vor einem Greenscreen im Cabriolet sitzend durch die Straßen von Los Angeles. Gerade als man sich gespannt ins Sitzpolster zurücklehnen möchte, werden der Pomp abrupt ab- und theoretische Gedankenexkurse angedreht
Weitere Vorstellungen von „Stadion der Weltjugend“ 7.–9., 14.–16. und 21.–23. Juli
Eine gigantische, aufblasbare Frauenfigur
Den Großteil des übrigen Abends verbringen die fünf DarstellerInnen, in wechselnder Kostümierung, beengt ins Kunstleder eines Kleinwagens gepresst und führen Pollesch-typische Diskussionen zu Genderfragen, Authentizität und Liebe. „Das waren noch Zeiten. Als man sich nicht immer selbst spielen musste“, meint Martin Wuttke, und etwas später fragt Christian Schneeweiß ratlos von der Rückbank. „Wo ist denn die Epoche hin, in der man etwas spielte, was man nicht ist?“
Auf die Euphorie des Publikums folgt Ernüchterung. Es ist nicht mehr 1969. Das ist das Traurige an diesem Abend, denn man hätte sich insgeheim gerne in vergangene Filmwelten geflüchtet und so getan, als wären es noch die Narrative der Gegenwart. Trotz aller Kostümreferenzen auf Filmklassiker liegt Martin Wuttke schließlich, mit erschreckender Ähnlichkeit zu Woody Allen, im Schoß einer gigantischen aufblasbaren Frauenfigur, die sich wie eine Erektion mit Brüsten vor der Leinwand erhoben hatte, und muss feststellen: „Warum funktioniert das alles nicht mehr? Das bringt doch alles nichts mehr. Wo ist denn da die Künstlichkeit?“
Das ist der viel zitierte „Anschlussfehler“, der immer wieder in den Diskussionen auftaucht. Die alten Narrative wollen nicht mehr greifen, und neue künstliche, utopische Filmwelten scheint es aufgrund des Authentizitätsdiktats der Gegenwart nicht zu geben. Man fragt sich, ob das nicht der eigentliche Horror ist: dass man anderthalb Stunden Menschen auf der Leinwand zuschaut, die sich selbst spielen und die man selbst sein könnte.
Die Tragik, dass die Flucht ins Autokino 2016 nicht mehr funktioniert, ist nicht die reaktionäre Sehnsucht nach überholten Hollywoodversprechungen. Es ist die Einsicht, dass die Traumfabrik keine zeitgenössischen Utopien produziert. In diesem Sinne kann der Abend nur als Aufforderung gemeint sein, nach dem gegenwärtigen Pendant des Autokinos zu suchen. Beim Hupapplaus kehrt die anfängliche Euphorie aber nochmal kurz zurück.
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