Polizeiwillkür in Hamburg: Zu politisch für die Polizei
Die Polizei versteht das Sammeln von Unterschriften für zwei Volksinitiativen als unangemeldete Versammlung – und verhängt Bußgeld.
„Wir zogen mit einem Fahrradanhänger, in dem wir Material transportierten, durch das Schanzenviertel“, erzählt Johannes Kohl der taz. Das Material waren in diesem Fall Unterschriftenlisten und Stifte, ein Tischchen, um die Listen auszulegen und Desinfektionsspray.
Im Gesicht hätten sie einen Mund-Nasen-Schutz getragen und in der Hand ein Plakat an einem Holzstiel, mit der Aufschrift „Keine Profite für Boden und Miete – hier unterschreiben“. Unterwegs seien Kohl und seine Freundin an diversen umherstreifenden Polizist*innen vorbeigekommen, von denen sich keine*r für die Unterschriftensammlung interessiert habe. – bis sie an der Ecke Neuer Pferdemarkt, Stresemannstraße von zwei Polizisten verfolgt worden seien.
Ein Polizist habe sie gefragt, was das für eine unangemeldete politische Versammlung sei. „Gar keine Versammlung“, habe Kohl geantwortet, „wir sammeln Unterschriften für eine angemeldete Volksinitiative“. Die Polizisten hätten gewirkt, als könnten sie mit dieser Information nicht wirklich etwas anfangen, sagt Kohl.
„Diese Willkür ärgert mich“
Gestört habe sie ganz eindeutig aber das Plakat am Stiel: Es beinhalte eine politische Botschaft, was Kohl und seine Freundin zu einer unangemeldeten politischen Versammlung mache.
Eine halbe Stunde lang hätten die Polizisten herum telefoniert und sich schließlich entschieden, die Unterschriftensammlung der beiden als Ordnungswidrigkeit zu werten. Ein Bußgeldbescheid werde ihnen per Post zugestellt, in welcher Höhe, konnten die Polizisten nicht sagen. „Diese Willkür, der man ausgesetzt ist, ärgert mich“, sagt Kohl. Einer der Beamten habe noch gesagt: „Sie hätten das ja auch online machen können.“
Statt von Willkür spricht das Gesetzbuch bei Ordnungswidrigkeiten vom Opportunitätsprinzip. Im Gegensatz zu Straftaten sind Polizist*innen nicht verpflichtet, diese zu verfolgen. Sie können es machen, wenn sie nichts Besseres zu tun haben. Gerade dieser letzte Aspekt schockiert den Mieteranwalt Marc Meyer, der mit den beiden Hamburger Mietervereinen die Volksinitiativen gestartet hat: „Ich bin entsetzt, dass die Polizei nichts Besseres zu tun hat, als Menschen zu verfolgen, die Unterschriften für bezahlbaren Wohnraum sammeln“, sagt er.
Der Rechtsanwalt Christian Woldmann hält das Einschreiten der Polizei für einen massiven Eingriff in das Petitionsrecht und das Recht, Volksbegehren durchzuführen. „Wie soll man die erforderlichen Unterschriften zusammen bekommen, wenn die Polizei nach Gutdünken entscheidet, das Sammeln zu begrenzen?“, fragt der Jurist.
Schuld waren die Gesamtumstände
Außerdem komme das Versammlungsrecht hier gar nicht zur Anwendung, denn das Sammeln von Unterschriften diene einem ganz anderen Zweck als politische Kundgebungen. „Man kann eine Versammlung machen, um dort Unterschriften zu sammeln“ erklärt Woldmann. „Aber das bloße Sammeln von Unterschriften ist keine Versammlung, daran ändert auch ein Plakat nichts.“
Zudem seien Versammlungen nach dem in Hamburg geltenden Bundesversammlungsgesetz erst ab drei Personen als solche zu verstehen.
Der Polizeisprecher Florian Abbenseth erklärt, die Polizisten hätten das Geschehen „aufgrund der Gesamtumstände“ als Versammlung klassifiziert. Nach der aktuellen Pandemieverordnung sind Kundgebungen mit bis zu 1.000 Personen zwar wieder erlaubt, müssen aber angemeldet werden.
Auf die Frage nach dem Ermessensspielraum der Beamten, die Sache weiter zu verfolgen oder die Unterschriftensammler*innen in Ruhe zu lassen, sagt der Sprecher: „Die einschreitenden Beamten haben von ihrem Ermessen keinen Gebrauch gemacht.“ Das Bußgeld belaufe sich in einem solchen Fall auf 150 Euro pro Person.
Das wollen Kohl und seine Freundin nicht auf sich sitzen lassen. Sobald sie den Bußgeldbescheid haben, wollen sie prüfen, dagegen zu klagen.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Prozess zu Polizeigewalt in Dortmund
Freisprüche für die Polizei im Fall Mouhamed Dramé
Ex-Wirtschaftsweiser Peter Bofinger
„Das deutsche Geschäftsmodell funktioniert nicht mehr“
Proteste in Georgien
Wir brauchen keine Ratschläge aus dem Westen
Fake News liegen im Trend
Lügen mutiert zur Machtstrategie Nummer eins
Kohleausstieg 2030 in Gefahr
Aus für neue Kraftwerkspläne
Leben ohne Smartphone und Computer
Recht auf analoge Teilhabe