Polizeigewalt in den USA: Fixiert bis zum Tod
Erneut ist in den USA ein Schwarzer getötet worden – in einer Klinik. Ein Video zeigt nun, wie er minutenlang gewaltsam fixiert wird.
Aber in den fatalen elf Minuten am Nachmittag des 6. März, als bis zu neun Männer und Frauen in Uniform – Sheriff-Mitarbeiter und Angestellte eines psychiatrischen Krankenhauses – gleichzeitig auf ihm lagen, war der 28-jährige Irvo Otieno allein. „Alle Systeme haben meinen Sohn im Stich gelassen“, sagt Caroline Ouko, „die Polizei, das Krankenhaus und die Justiz“.
Als die Mutter 1998 mit ihren beiden Söhnen aus Kenia in die USA kam, um ihren „amerikanischen Traum“ zu verwirklichen, war Irvo vier. An Kenia konnte er sich später kaum erinnern.
Nachdem sein Leben in einem Albtraum endete, will sich sein großer Bruder Leon Ochieng dafür einsetzen, dass kein psychisch kranker Mensch mehr so traktiert wird. Zwei Wochen und einen Tag nach dem Tod seines Bruders stand er am Dienstag dieser Woche zusammen mit seiner Mutter und den Anwälten der Familie auf der Kanzel der First Baptist Church in Süd-Richmond, wo voraussichtlich auch die Trauerfeier für Otieno stattfinden wird, und appellierte an den republikanischen Gouverneur von Virginia, Glenn Youngkin: „Machen Sie Ihren Staat zu einem Vorbild“.
Zehn Personen – sieben Mitarbeiter des Sheriffs und drei Angestellte des Central State Hospital – sind inzwischen wegen „Mordes zweiten Grades“ angeklagt. Die Staatsanwältin Ann C. Baskervill und eine Grand Jury im Dinwiddie County in Virginia betrachten sie als die Verantwortlichen für den Erstickungstod von Otieno.
Gefesselt an Händen und Füßen
Warum sie den Mann im Aufnahmeraum des Krankenhauses getötet haben, anstatt ihm zu helfen, ist ein Rätsel. Ein Video ohne Ton, das zuerst die Washington Post veröffentlicht hat, zeigt, wie Sheriff-Mitarbeiter den nur mit einer Hose bekleideten, vornüber gebeugten und an Händen und Füßen gefesselten Otieno in den Raum schleppen.
Während unerträglich langer Minuten werfen sich immer mehr Mitarbeiter, dann auch mehrere Krankenhausbeschäftigte auf den Körper des auf dem Bauch liegenden Mannes. Bei manchen sieht es aus, als knieten sie auf ihm. Ein weiteres halbes Dutzend Krankenhausbeschäftigte schauen der Szene scheinbar untätig zu.
Otieno litt seit Jahren an einer psychischen Krankheit, wegen der er Medikamente nahm. Über lange Perioden war er symptomfrei. In Krisensituationen musste er stationär behandelt werden. Am 3. März war so eine Krise. Otieno ging in Henrico auf ein Nachbargrundstück, zog dort sonnenenergiebetriebene Lampen aus dem Rasen und schlug gegen eine Haustür. Seine Mutter lief ihm hinterher und holte ihn nach Hause. Aber ein Nachbar rief die Polizei.
Als die Polizei kam, stellte sich die Mutter schützend vor ihren erwachsenen Sohn und erklärte, er befinde sich in einer psychischen Krise. Die Polizisten fesselten ihn. Wegen angeblichen Widerstands brachten sie ihn nicht in Behandlung, sondern in eine Gefängniszelle, wo sie ihn drei Tage lang festhielten.
Bis zu Otienos Tod versuchte seine Mutter vergeblich, herauszufinden, wo er war. Sie konnte auch nicht dafür sorgen, dass die Polizei ihm seine Medikamente gab. Inzwischen ist bekannt, dass Otieno schon in der Gefängniszelle misshandelt worden ist. Er war dort nackt. Auf dem Boden lagen Fäkalien. Ein Uniformierter soll Pfefferspray in seine Zelle gesprüht haben. Ein anderer soll den am Boden liegenden Gefangenen vor dem Transport in das psychiatrische Krankenhaus geboxt haben.
Polizeigewalt nimmt zu
„Eine psychische Krise sollte nicht gleichbedeutend mit Tod sein“, sagte Ben Crump am Dienstag auf der Kanzel in Richmond. Der Bürgerrechtsanwalt hat zahlreiche schwarze Familien in den USA vertreten, deren Angehörige von der Polizei getötet worden sind. Trotz der Proteste von Bürgerrechtsgruppen ist die Polizeigewalt in den USA 2022 wieder auf den Stand von 2015 gestiegen.
Nach Recherchen der unabhängigen Gruppe Mapping Violence hat die Polizei im vergangenen Jahr 1.200 Menschen getötet. Zwei Drittel der Opfer waren Angehörige von Minderheiten. Auch dieses Jahr hat nicht gut begonnen. In den ersten 81 Tagen des Jahres 2023 haben Strafverfolger in den USA bereits 113 Menschen getötet.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Sourani über das Recht der Palästinenser
„Die deutsche Position ist so hässlich und schockierend“
Haftbefehl gegen Netanjahu
Sollte die deutsche Polizei Netanjahu verhaften?
Autounfälle
Das Tötungsprivileg
Buchpremiere von Angela Merkel
Nur nicht rumjammern
Deutschland braucht Zuwanderung
Bitte kommt alle!
Spardiktat des Berliner Senats
Wer hat uns verraten?