Einschussloch auf roter Fläche

Mit dem Leben davongekommen. Dereck Garcia zeigt auf Einschusslöcher von Polizeikugeln Foto: Niklas Franzen

Polizeigewalt in Brasilien:Sie kommen, um zu töten

Derick Garcia hat Glück gehabt. Er entging nur durch Zufall den Kugeln. In den Favelas rund um Rio de Janeiro ist Polizeigewalt allgegenwärtig.

Ein Artikel von

16.6.2020, 16:24  Uhr

Dort drüben habe sie sich zusammengekauert. Maria Dalva Correia zeigt auf eine dunkle Ecke hinter der unverputzten Betontreppe. Mit einem Hubschrauber flog die Polizei über ihr Viertel. Plötzlich knallte es. Bum, bum, bum. „Das ganze Haus hat gewackelt.“ Nach ein paar Minuten war der Spuk vorbei, Correia kam aus dem Versteck hervor. Ihr Haus war voll mit Einschusslöchern.

Wir würden Ihnen hier gerne einen externen Inhalt zeigen. Sie entscheiden, ob sie dieses Element auch sehen wollen.

Ich bin damit einverstanden, dass mir externe Inhalte angezeigt werden. Damit können personenbezogene Daten an Drittplattformen übermittelt werden. Mehr dazu in unserer Datenschutzerklärung.

Correia ist eine hochgewachsene 66-jährige Frau mit krausen Haaren und kräftiger Stimme. Seit mehr als 30 Jahren lebt sie im Herzen der Favela Morro do Borel im Norden von Rio de Janeiro. Schon von Weitem sieht man die roten Backsteinhäuser, die einen grünen Hang hinaufklettern. Durch die enge Gassen der Favela düsen Motorräder, Schulkinder in Uniformen spielen auf der Straße, aus winzigen Bars mit Plastikstühlen dröhnt ohrenbetäubende Musik. Es ist ein heißer Tag. „Corona“ kannte man bisher nur als mexikanisches Bier, Schutzmasken trägt man höchstens bei Renovierungsarbeiten. „Bei Einsätzen der Polizei“, sagt Correia, „steht hier alles still.“

Von einem gerahmten Foto in Correias Haus lächelt ein junger Mann dem Besucher entgegen. Thiago war 19 Jahre alt, als er von der Polizei erschossen wurde. Das war 2003. „Hier trafen ihn die Kugeln“, sagt Silva und zeigt auf die Umrisse eines Körpers im Autopsiebericht.

Maria Dalva Correia aus Rio

Hat ihren Sohn verloren: Maria Dalva Correia aus Rio Foto: Niklas Franzen

Der Schmerz über den Tod ihres Sohnes hat Correia fast zerstört. Ein wenig Halt fand sie erst, als sie zusammen mit anderen Angehörigen eine Organisation gegen Polizeigewalt gründete. Das Leid wegen des Tods ihrer Kinder bringt Eltern aus der ganzen Stadt zusammen. Heute ist Correia eine der Sprecher*innen der Gruppe, sie besucht Anhörungen im Stadtrat, spricht auf Demonstrationen, trifft Politiker*innen. Ihre Anklage hat es in sich: Der Staat ermordet unsere Kinder.

Ein Gouverneur, der die Gewalt predigt

Im vergangenen Jahr tötete die Polizei von Rio de Janeiro so viele Menschen wie nie zuvor. Trotz Corona nahmen die Fälle tödlicher Polizeigewalt im April 2020 noch einmal um 43 Prozent im Vergleich zum Vorjahresmonat zu.

Der Anstieg lässt sich auch mit dem fulminanten Aufstieg eines Mannes erklären. Ende Oktober 2018 stand ein runder, etwas tollpatschig wirkender Mann mit Halbglatze und randloser Brille am Hauptbahnhof von Rio de Janeiro und grinste in die Kameras. Wilson Witzel war wenige Stunden zuvor zum Gouverneur gewählt worden. Kaum jemand hatte den ehemaligen Richter auf dem Schirm gehabt, selbst Expert*innen war er weitestgehend unbekannt. Doch dann suchte Witzel die Nähe zu dem heutigen Präsidenten Jair Bolsonaro, überbot gar dessen Machosprüche. Einmal versprach er, bewaffnete Verbrecher durch einen Kopfschuss töten zu lassen. Ein anderes Mal schwadronierte er, Dealer in einer Favela mit einer Rakete in die Luft zu jagen. Der Bolsonaro-­Effekt trat ein, Witzel gewann die Wahl.

Sicherheitsberater Ubiratan Angelo

Verteidigt die Polizeieinsätze: Sicherheitsberater Ubiratan Ângelo Foto: Niklas Franzen

„Mit Witzel“, sagt Correia und verzieht bei dem Namen das Gesicht, „hat sich für uns alles verschlimmert.“ Während sie redet, läuft im Hintergrund der Fernseher, ihr Neffe tobt durch das Wohnzimmer, in der kleinen Küche brät Correias Mann Speck an. Viele seiner Wahlkampfversprechen habe Witzel bereits umgesetzt, so etwa den Einsatz von Polizeischarfschützen und Hubschraubern. Auch Intensität und Dauer der Einsätze hätten zugenommen, meint Correia. Ende Mai wurde ein junger Mann aus der Favela von der Polizei durch einen Kopfschuss getötet. Der 23-Jährige, so hieß, sei mit einem Banditen verwechselt worden. Für Correia und viele Nachbarn ist klar: Die Polizei kommt in ihre Viertel, um zu töten.

„Die Polizei ist nicht grundlegend böse“

Das Café Kirsche ist ein modernes Lokal direkt am Hafen. Anzugträger sitzen vor Laptops, eine breite Fensterfront gibt Ausblick auf das imposante Gebäude des Stadtrats. Ein Mann mit legeren Hemd, angegrautem Bart und Moderatorenlächeln kommt herein und begrüßt eine Frau an einem Tisch mit Küsschen auf beide Wangen. Ubiratan Ângelo ist ein bekannter Mann in Rio de Janeiro. Der 62-Jährige war Kommandant der Militärpolizei und leitete sie in einigen der berüchtigtsten Viertel der Stadt. Nach seiner Laufbahn bei der Polizei arbeitete er für die brasilianische UN-Mission in Haiti. Heute ist Ângelo Sicherheitsberater, Politiker und immer noch so etwas wie das nette Gesicht der Militärpolizei.

„Die sozialen Bewegungen schauen nur auf den Hammer“, sagt Ângelo und hält seine geballte Faust in die Luft. „Aber sie sehen nicht die Hand, die den Hammer hält.“ Der Hammer stehe für die Polizei, die Hand für die Politik. Nach Ansicht von Ângelo machen es sich viele mit ihrer Kritik zu einfach. Ja, die Polizei sei gewalttätig und Polizis­t*in­nen machten Fehler. „Aber sie ist nicht ­grundlegend böse.“ Die Polizei sei Ausdruck der Gesellschaft – und in dieser laufe eben einiges falsch.

Die Zahlen Brasilien ist das Land mit den weltweit zweitmeisten Covid-19-Toten. Die Zahl der Opfer stieg am Samstag nach Angaben des Gesundheitsministeriums auf 42.720. Insgesamt 850.514 Infizierte wurden gezählt, wobei von einer sehr hohen Dunkelziffer auszugehen ist. Nur in den USA sind diese Zahlen noch höher.

Das Leben Trotzdem sind vielerorts wieder Geschäfte geöffnet. In Rio bevölkerten Bewohner am Wochenende die Strände. Zugleich wächst der Unmut über Präsident Bolsonaro, der die Krankheit verharmlost. Mit der symbolischen Aushebung von hundert Gräbern am Strand von Copacabana protestierten am Donnerstag Aktivist*innen gegen den Umgang der Regierung mit der Pandemie.

Die Elendsviertel Favelas sind besonders gefährdet. Dort wohnen die Menschen dicht aneinandergedrängt. Der Anteil der Tuberkulose- und Asthmakranken ist fünfmal so hoch wie in wohlhabenden Vierteln. Wegen der schlechten Ernährung gibt es viele Diabetiker*innen, und Geld für Prävention hat kaum einer. Außerdem gibt es in vielen Favelas noch nicht einmal Wasser zum Händewaschen. (taz, dpa, afp)

Während Ângelo spricht, gestikuliert er wild mit den Händen, kritzelt Einsatzpläne auf eine Serviette, blickt über den Rand seiner Brille, wenn es ernst wird. Auf kritische Nachfragen reagiert er freundlich, seine Ausführungen schmückt er mit Anekdoten. Ângelo ist ein Mann, der weiß, dass er Charme hat und wie er Menschen um den Finger wickeln kann.

Afrobrasilianer*innen sind in Rio statistisch überproportional von Polizeigewalt betroffen. Soziale Bewegungen bezichtigen die Polizei, rassistisch zu sein, und sprechen gar von einem „Genozid an der schwarzen Bevölkerung“. Ângelo schüttelt energisch den Kopf. „Opferkult“, nennt er diesen Diskurs. Die Polizei sei einer der wenigen Orte, wo Menschen wie er Karriere machen könnten. Sein Vater war Stahlarbeiter, seine Mutter Hausfrau.

Die Favela Sao Goncalo bei Rio des Janeiro

Hotspot der Gewalt: Die Favela Sao Goncalo bei Rio des Janeiro Foto: Niklas Franzen

Die arme schwarze Familie wuchs in einer Favela am Stadtrand auf. Als Kind verkaufte Ângelo Bonbons am Straßenrand, mit 18 trat er in die Polizei ein. „Um Dinge zu verbessern“, wie er betont. Nebenbei studierte er, lernte Fremdsprachen, und schließlich kam er in Führungspositionen. Heute seien viele Polizist*innen Afro­bra­silia­ner*innen. „Ein Genozid von Schwarzen an Schwarzen? Das ergibt doch keinen Sinn.“ Die Gewalt habe vielmehr soziale Hintergründe. Ângelo meint: „Wenn du unten bist, ist die Hautfarbe egal.“ Auch er habe Vorurteile wegen seiner Hautfarbe erlebt. Aber die Vorurteile wegen seiner Uniform seien noch viel größer gewesen.

Sind Polizisten auch Opfer?

Um den derzeitigen Zustand der Polizei zu verstehen, muss man zurückblicken. Die Militärpolizei wurde zur Kolonialzeit als Schutztruppe für die Gouverneure gegründet. Bis heute unterliegt sie den Landesregierungen. Die Ausbildung der Truppe ist seit je militärisch, das System hierarchisch, Brutalität Teil ihrer Logik. Zur Zeit der brasilianischen Militärdiktatur von 1964 bis 1985 wurde in ihren Zellen gefoltert, bis heute gilt sie als gewalttätig und korrupt. Während die Militärpolizei für die Bekämpfung der Kriminalität zuständig ist, kümmert sich die Zivilpolizei, vergleichbar mit der deutschen Kriminalpolizei, um die Aufklärung von Straftaten.

Ein Streifenwagen rast mit Blaulicht und Sirene am Café vorbei. „Viele Linke betrachten diese Jungs als Feinde“, sagt Ângelo und schaut dem Wagen hinterher. „Dabei müssten sie sich annähern, um wirklich Dinge in der Gesellschaft zu verändern.“ Für Ângelo ist klar: Seine ehemaligen Kolleg*innen sind ebenfalls Opfer. Und in der Tat: Insbesondere in Rio de Janeiro sind Extremsituationen Alltag. In den Favelas stehen sich bis an die Zähne bewaffnete Gangs gegenüber, die Ausrüstung der Polizei ist oft mangelhaft, die Bezahlung gering. Viele Polizist*innen leiden unter Depressionen, die Selbstmordrate ist fünfmal so hoch wie im Durchschnitt. „Wenn die Polizei tötet, ist der Aufschrei groß“, meint Ângelo. „Wenn Dealer töten, wird geschwiegen.“

Volle Unterstützung bekommen Polizist*innen von ihrem obersten Chef Wilson Witzel. Im August sorgte der Gouverneur wieder einmal für Aufsehen, als er dabei gefilmt wurde, wie er Luftsprünge machte, nachdem ein Scharfschütze der Polizei einen Geiselnehmer erschossen hatte. Ein anderes Mal filmte sich der Politiker selbst bei einem Einsatz in einem Hubschrauber, bei dem Polizisten auf einen vermeintlichen Unterstand von Dealern ballerten. Später stellte sich heraus, dass das Zelt evangelikalen Pilgern als Rastplatz diente. Die Message, die Witzel mit diesen Bildern vermitteln will, ist klar: In Rio de Janeiro weht jetzt ein anderer Wind. Der von Präsident Bolsonaro geprägte Spruch: „Ein toter Verbrecher ist ein toter Verbrecher“, ist so etwas wie die Leitlinie von Witzels Politik geworden. Und diese Rambopolitik findet in der gewaltgeplagten Stadt durchaus Zustimmung in weiten Teil der Bevölkerung.

Die Leidtragenden dieser Politik leben in Gegenden, wo es häufig weder eine Postadresse noch Kanalisation gibt. Insbesondere die balas perdidas, die Querschläger, sind in den Favelas zum Symbol geworden. Es sind Fälle wie der der achtjährigen schwarzen Ágatha, die bei einem Einsatz durch eine Polizeikugel getötet wurde. Oder wie der des getöteten schwarzen Familienvaters, dessen Auto von Soldaten mit mehr als hundert Schüssen durchlöchert wurde. Vergangenes Jahr ging das Foto eines Plakats viral, das eine Lehrerin aus der Favela Maré an der Fassade angebracht hatte. Die Aufschrift: „Schule, nicht schießen!“

Derick Garcia, Bewohner von São Gonçalo

„Ich habe geschrien, dass ich Lehrer bin. Aber erst als ich meinen Rucksack mit den Büchern ausgeleert habe, haben sie aufgehört zu schießen“

Derick Garcia war gerade auf dem Weg zur Arbeit, als die Schüsse losgingen. „Hierhinter habe ich mich versteckt“, sagt Garcia und geht auf einen ausrangierten Wagen zu. Die Wand ist durchlöchert. „Ich habe geschrien, dass ich Lehrer bin. Aber erst als ich meinen Rucksack mit den Büchern ausgeleert habe, haben sie aufgehört zu schießen.“ Das war vor neun Monaten.

Garcia, 32, schlaksige Statur, geflochtene Haare, kommt aus einer Favela in São Gonçalo. Die Stadt liegt rund 30 Kilometer von Rio de Janeiro entfernt, doch gefühlt ist sie noch viel weiter von den Postkartenmotiven der Metropole am Zuckerhut weg. Taxifahrer machen einen großen Bogen um Garcias Heimat, Sozialprojekte wie in vielen Favelas Rio de Janeiros gibt es nicht. Ein ausländischer Journalist sei noch nie hier gewesen, meint Garcia. Die Stadt gilt als eine der gefährlichsten Gegenden Brasiliens – und in kaum einer anderen City sterben so viele Menschen durch Polizeikugeln. Am 18. Mai macht São Gonçalo landesweit Schlagzeilen: An diesem Tag brechen Polizisten auf der Jagd nach zwei Dealern in das Haus einer schwarzen Familie ein und schießen auf den unbeteiligten 14-Jährigen João Pedro, der gerade mit seinen Cousins spielt. Der Junge stirbt. Eine Verwechselung, wie die Polizei später erklärt.

Dereck Garcia auf die Wand

Dereck Garcia zeigt auf die Wand, in der Polizeikugeln eingeschlagen sind Foto: Niklas Franzen

Auch Garcia kennt solche Geschichten. Nervös fängt er zu lachen an, wenn er über die Momente spricht, die ihm bis heute den Schlaf rauben. Seine Mutter und sein Bruder wurden von der Polizei getötet. „Selbstverteidigung“, erklärten die Polizisten damals. Die Fälle wurden schnell zu den Akten gelegt. So wie fast immer in Rio de Janeiro und Umgebung. Eine Anklage oder gar Verurteilungen von Polizist*innen sind fast unmöglich. Tatorte werden verfälscht, Beweise manipuliert, Zeug*innen unter Druck gesetzt. Die Polizei, die eigentlich Verbrechen bekämpfen soll, begeht selbst schwere Verbrechen. Und sie bekommt zunehmend Rückendeckung durch die Regierung. Präsident Bolsonaro kämpft seit Langem für ein Gesetz, nach dem Polizist*innen, die im Einsatz töten, freigesprochen werden sollen.

„Lass uns jetzt hochlaufen“, sagt Garcia und marschiert eine steile Gasse hinauf. An einer Straßenecke lümmeln ein paar Jugendliche herum, vielleicht 15 Jahre alt. Joints im Mund, Headset im Ohr, Pistolen am Hosenbund. „Pack jetzt die Kamera weg“, sagt Garcia und streckt den Jungs einen Daumen entgegen. „Alles klar?“ Ein kurzes Nicken der Jungs, und es geht weiter hinauf. Auch Garcia saß vor einigen Jahren noch an dieser Straßenecke. Drei Jahre lang war er ein traficante, ein Drogendealer. „Ich habe das gemacht, weil ich keine Alternative hatte.“ Für Garcia ist klar: Der Drogenhandel ist eine Folge der sozialen Ungleichheit. Ihn mit Gewalt bekämpfen, wie es Witzel versprochen hat? „Unmöglich“, meint Garcia.

Einmal, erinnert er sich, griffen ihn Polizisten in seiner Favela auf. Für mehrere Stunden folterten sie ihn mit einer Plastiktüte über dem Kopf, drohten, ihn an verfeindete Dealer auszuliefern. Für ein Jahr kam er schließlich in Haft. Seine Zelle war für 18 Häftlinge ausgelegt, mit 130 Männern teilte er sich diese „Hölle“. „In der ersten Woche musste ich mein T-Shirt an die Gitterstäbe binden und im Stehen schlafen.“ Nach der Haft sei er „aufgewacht“, habe anfangen zu studieren, begann damit, sich als Aktivist gegen Polizeigewalt zu engagieren.

„Ich habe Glück gehabt“, meint Garcia und blickt von der Terrasse seines Hauses auf das Backsteinpanorama der Favela herunter. Mit dem organisierten Verbrechen habe er heute nichts mehr zu tun. „Aber ich vertraue den Jungs unten an der Straßenecke immer noch mehr als der Polizei.“

Einmal zahlen
.

Fehler auf taz.de entdeckt?

Wir freuen uns über eine Mail an fehlerhinweis@taz.de!

Inhaltliches Feedback?

Gerne als Leser*innenkommentar unter dem Text auf taz.de oder über das Kontaktformular.

Bitte registrieren Sie sich und halten Sie sich an unsere Netiquette.

Haben Sie Probleme beim Kommentieren oder Registrieren?

Dann mailen Sie uns bitte an kommune@taz.de.