Polizeigewalt in Baltimore: Vertrauen und Vertuschung
Die Untersuchungen im Fall von Freddie Gray haben begonnen. In Polizeigewahrsam starb er in Baltimore an einem Genickbruch.
NEW YORK taz | Freddie Gray sei gesund gewesen, sagt der Anwalt seiner Familie. Das gilt für die Zeit vor seiner Verhaftung. Eine Woche später ist Gray am Sonntag in Baltimore gestorben. Mit einer im Nacken gebrochenen Wirbelsäule. Er war 27 Jahre jung, schwarz und trug keine Schusswaffe. Die Staatsanwaltschaft ermittelt. Die Bürgermeisterin ist „zornig“. Das Justizministerium erwägt, sich einzuschalten. Und sechs Polizisten in Baltimore sind vorerst vom Dienst suspendiert.
Wer, wie, wo, wann und warum die Wirbelsäule von Freddie Gray gebrochen hat, ist immer noch nicht klar. Obwohl es bereits am Samstag, den 18. April geschah. Am Morgen um 8 Uhr 39 hat ein Polizist auf dem Rad in der West-Side von Baltimore „Blickkontakt“ mit Gray, der mit einem anderen Mann an einer Straßenkreuzung steht.
So beschreibt es der Vizepolizeichef von Baltimore, Jerry Rodriguez, am Montag in einer Pressekonferenz. Gray und der andere Mann rennen in südlicher Richtung davon. Mehrere Polizisten auf Fahrrädern nehmen die Verfolgung auf. Eine Minute später melden sie per Funk: „Wir haben einen“. Der andere Mann entkommt.
Was zwischen dem Moment von Grays Ergreifung und der Ankunft des Gefangenentransports passierte, ist unklar. Die Polizei von Baltimore spricht von einer unkomplizierten Festnahme, der „Verdächtige“ habe keinen Widerstand geleistet und sich Handschellen anlegen lassen. Nicht einmal eine bereits gezückte Taser-Pistole sei zum Einsatz gekommen. Anwohner sahen, dass mehrere Polizisten mit den Knien auf Grays Kopf und Rücken hockten.
Nicht mehr aus dem Koma erwacht
Von der Verfrachtung Grays in den Gefangenentransporter existiert zumindest ein Handy-Video. Darauf schreit der junge Mann unter Schmerzen. Und während Polizisten ihn in die Wanne schleppen, schleift eines seiner Beine hinter ihm her. „Das Bein von dem Jungen ist gebrochen“, ruft eine Frau. Nach Angaben des Vize-Polizeichefs verlangt Gray auch nach einem „Inhalator“. Die Polizei wirft ihn bäuchlings in die Wanne.
Ein paar Blocks weiter meldet der Fahrer der Wanne, dass der Gefangene im Transportraum hinter ihm „wüte“. Er hält an und legt ihm metallene Fussfesseln an. 44 Minuten nach seiner Verhaftung wird Gray aus dem Transportfahrzeug getragen. Eineinhalb Tage danach wird er noch operiert. Aber er wacht nicht mehr aus dem Koma auf.
„Wir wollen wissen, wie er die Verletzungen erlitten hat“, sagt der Vizepolizeichef bei der Pressekonferenz. Polizeichef Anthony Batts verspricht, dass die Polizei am 1. Mai ihren Untersuchungsbericht vorlegen wird. Warum sie dafür noch weitere elf Tage benötigt, sagt er nicht.
Bürgermeisterin Stephanie Rawlings-Blake will für eine „saubere, unabhängige Untersuchung“ sorgen. „Wir brauchen Vertrauen“, sagt sie, „hier hat ein Mann eine lebensbedrohliche Verletzung in Polizeigewahsam erlitten. Das müssen wird klären“. Alle drei Amtsträger stellen es so dar, als wäre während des Transports etwas passiert. Und als wäre Gray körperlich intakt gewesen, als er in den Transporter verfrachtet wurde.
Nur ein Klappmesser in der Tasche
Angehörige glauben, dass Gray seine Verletzung möglicherweise schon zuvor erlitt. „Dieser Mann brauchte einen Krankenwagen“, sagt eine Augenzeugin. Am Sonntag und Montag gab es in Baltimore Demonstrationen gegen Polizeigewalt. Die Gruppe „March2Justice“, die seit Tagen zu Fuß von New York nach Washington gegen Polizeigewalt unterwegs ist, schloss sich am Montag den örtlichen Demonstranten an.
Baltimore ist eine mehrheitlich (63 Prozent) schwarze Stadt, wie Ferguson in Missouri, wo im vergangenen August der unbewaffnete schwarze Teenager Michael Brown von einem weißen Polizisten erschossen wurde. Aber die Großstadt Baltimore hat eine afroamerikanische Elite. Die demokratische Bürgermeisterin und der Polizeichef gehören dazu.
Bürgermeisterin Rawlings-Blake hat in ihrer Stadt der Gewalt von „Schwarz-gegen-Schwarz“ den Kampf angesagt. Dazu gehören auch die 600 Videokameras im Straßenbild. Zugleich hat sie dafür gesorgt, dass die zahlreichen Klagen über polizeiliches Fehlverhalten juristisch verfolgt werden.
Die West Side ist ein rauhes, für Drogengeschäfte berüchtigtes Pflaster. Der tote Gray ist in den zurückliegenden Monaten zweimal mit Heroin erwischt worden. Diesmal allerdings hatte er keine Drogen dabei. In seiner Tasche fand sich lediglich ein Klappmesser. „Das“, so die Bürgermeisterin, „ist nicht unbedingt ein Vergehen“. Am Dienstag wird sie die Angehörigen des Toten treffen.
Der Anwalt der Gray-Familie, William Murphy, sieht Vertuschung am Werk. Er glaubt, dass die Polizei Informationen zurückhält und „eine Version entwickelt, die sie aus der Verantwortung entlässt“.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Nach dem Anschlag in Magdeburg
Rechtsextreme instrumentalisieren Gedenken
Anschlag in Magdeburg
„Eine Schockstarre, die bis jetzt anhält“
Exklusiv: RAF-Verdächtiger Garweg
Meldung aus dem Untergrund
Anbrechender Wahlkampf
Eine Extraportion demokratischer Optimismus, bitte!
Russische Männer auf TikTok
Bloß nicht zum Vorbild nehmen
Bundestagswahl am 23. Februar
An der Wählerschaft vorbei