Polizeieinsatz in Göttinger Wohnkomplex: „Ortsbegehung“ im Morgengrauen
In Göttingen wurde mit einem Großaufgebot ein Hochhaus kontrolliert, in dem überwiegend Rom*nja wohnen. Das martialische Vorgehen wird kritisiert.
Was nach einer groß angelegten Razzia klingt, bezeichnete Göttingens Sozialdezernentin Anja Krause nach Abschluss des gemeinsamen Einsatzes von Stadtverwaltung und Polizei als „Ortsbegehung zur Verbesserung der Lebensumstände“. In Tandems hätten Polizist*innen und Mitarbeitende der Stadt „ganz in Ruhe“ Personalien der Bewohner*innen aufgenommen, Leerstand, Schädlingsbefall und Überbelegung überprüft. Damit wolle man dem Haupteigentümer nachweisen, dass es in seiner Immobilie inakzeptable Missstände gibt, unter denen die rund 700 Menschen, darunter 200 Kinder und Jugendliche, zu leben hätten.
Doch die Kritik an der Aktion ist groß. „Wieso kommen hier 600 Polizisten? Die Kinder wurden alle um 6 Uhr aufgeweckt und hatten Angst“, sagt ein 50-jähriger Bewohner der taz. Ohne den Tausch von Personalien gegen einen Kontrollschein habe niemand das Gelände verlassen dürfen, auch die Kinder hätten nur nach Kontrolle zur Schule gehen dürfen.
Das sei „einfach Stress für die Kinder“, sagt er. „Wir sind für die wie Hunde, nur Hunde lassen sie laufen, aber uns nicht“. Die Polizei habe außerdem „Geld, Goldschmuck und Handys“ konfisziert und immer wieder gefragt: „Wieso habt ihr das?“ Einige Anwohner*innen hätten nun Probleme, ihre Einkäufe zu zahlen.
Kritik an „rassistischer Repression“
Neben einem sozialen Brennpunkt sei die Groner Landstraße 9–9b auch ein „polizeilicher Brennpunkt“, sagte am Dienstagnachmittag Rainer Nolte, leitender Polizeidirektor in Göttingen. Insgesamt habe man während der Maßnahme fünf Haftbefehle vollstrecken können und sieben Wohnungsdurchsuchungen durchgeführt. Die Haftbefehle seien alle aufgrund kleiner Delikte und Ordnungswidrigkeiten erlassen worden.
„Unsere Gespräche mit den Bewohner*innen und das Auftreten der Behörden zeigen deutlich, dass die Stadt sich als liebe Helferin inszeniert und dahinter gewaltvolle, rassistische Repressionen stecken“, erklärt Lena Rademacher, Sprecherin der Basisdemokratischen Linken.
Die Gruppe war es auch, die den letzten behördlichen Großeinsatz im Juni 2020 massiv kritisierte. Damals stellte die Stadtverwaltung das gesamte Gebäude aufgrund einiger Coronafälle unter Quarantäne und setzte diese mit einer Einzäunung des Gebäudekomplexes und massivem Polizeiaufgebot durch.
Inzwischen hat das Göttinger Verwaltungsgericht das Vorgehen für rechtswidrig erklärt. Daraufhin klagten im Dezember vergangenen Jahres von den etwa 700 Anwohner*innen 223 Personen aus 78 Familien auf ein Schmerzensgeld wegen rechtswidriger Freiheitsentziehung in Höhe von 880.850 Euro. Das geht aus einer Pressemitteilung der Anwaltskanzlei Sven Adam hervor. Bekommen haben die Bewohner*innen bis heute allerdings nichts.
Auch Grüne kritisieren Vorgehen
Auch die Göttinger Ratsfraktion der Grünen stellt den Einsatz am Dienstag infrage: „Es ist gut, dass wir uns endlich den Wohnverhältnissen in der Groner Landstraße 9 zuwenden, und es ist auch gut, dass die Bewohnbarkeit des Hauses Priorität bekommt und wir nicht mehr tatenlos zusehen – aber dafür ein solch massiver Einsatz im Morgengrauen?“, stellt Susanne Stobbe, Fraktionsvorsitzende der Göttinger Ratsfraktion der Grünen das Vorgehen infrage.
Es sei klar, dass die Gefährder*innenlage von der Polizei eingeschätzt werde und diese schlussendlich festlege, wie viele Polizist*innen zum Einsatz kämen, so Stobbe, aber bei Verhältnismäßigkeit und Umgang mit den Bewohnenden sei die Verwaltung gefragt.
Auch das Göttinger Roma-Center kritisiert den Einsatz am Dienstag scharf. „Die Maßnahme stigmatisiert die Bewohner*innen, traumatisiert die Kinder durch den massiven Einsatz der Polizei. In dem Haus leben viele Roma aus Rumänien, ein Land das regelmäßig von europäischen Institutionen wegen Polizeigewalt verurteilt wird.“
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