Polizeiarbeit in Stuttgart: „Den Punk“ gibt’s hier nicht
Zeit, den realen Punk aufzusuchen. Im Stuttgarter Schlossgarten, wo sich Polizei und die Zaungäste der Gesellschaft gut' Nacht sagen.
The Shitshow must go on: Auch Wochen nach den Krawallen in Stuttgart wird immer noch mehr nach dem Wer statt nach dem Warum gefragt. Als könnte man herausinvestigieren, dass vielleicht doch die Gymnasiasten vom Nobelviertel Killesberg hinter der Randale stecken, legten sich ARD und SWR in einem Fernsehbeitrag am Schlossplatz auf die Lauer und wanzten sich ans Volk.
„Wir fragen uns, wer hat mitgemacht? Wir kommen mit einer Gruppe Jugendlicher ins Gespräch – und hören Erstaunliches“, sagt die öffentlich-rechtliche Singsang-Stimme aus dem Off des „Report Mainz“. Dann palavert ein Punkermädchen, wie ihr der Schnabel gewachsen ist: dass sie Typen aus ihrer Klasse angezeigt hätte, weil die damit rumgeprahlt hätten, dass sie in der Krawallnacht in einen Schuhladen in Stadtmitte eingebrochen wären und auch Handys geklaut hätten. „Das war mir zu doof, und dann hab ich die halt angezeigt.“
Der Reporter fragt, was das denn für Jungs gewesen seien, und das Mädchen sagt, dass man sie als „so typische, heutzutage wie man’s nennt Kanakenjungs“ bezeichnen würde, „die einen auf Baba machen und denken, sie sind die Größten“.
Das Video mit diesem 30-sekündigen Ausschnitt ging viral, gefundenes Fressen für einen gepflegten Scheißesturm linksalternativer Käpsele. „Punk’s dead. Jedenfalls in #Stuttgart“, trötete etwa Jutta Ditfurth auf Twitter und teilte den Beitrag mit fast 27.000 Menschen.
Jahrgang 1986, ist Journalistin und Musikerin aus Stuttgart. Seit fast 15 Jahren singt und spielt sie in verschiedenen Punk- und Metalbands. Sie war Volontärin und Redakteurin bei der Kontext: Wochenzeitung und ist dort heute freie Autorin und Expertin für Verstörendes, Frauengedöns, politisches Leben und Hegemonie
Awareness-Handschuhe
Ja, wie lustig ist es eigentlich, sich als linke Intellektuelle über Straßenkids lustig zu machen? Das Mädchen hat das Wort „Kanaken“ vermutlich zitiert. Vermutlich checkt sie das schon irgendwie, dass das Wort in der Erwachsenenwelt eigentlich nicht geht. Aber sie hat’s halt trotzdem gesagt. Vermutlich weil es der Lebensrealität einer gesellschaftlichen Außenseiterin entspricht, die selbst nie mit bildungsbürgerlichen Awareness-Handschuhen angefasst wurde.
Rumgemackere und Gewalteskalationen gehen auch nicht klar, das interessiert aber viele Jungs und Männer, und zwar kulturübergreifend und in allen Gesellschaftsschichten, auch nicht. Vermutlich. Niemand spricht im Zusammenhang mit Stuttgart jedoch von einem Männerproblem, obwohl es kein Geheimnis ist, dass Gewalt immer noch die (Re-)Produktion und Stabilisierung von Männlichkeit erlaubt. Nicht vermutlich. Zweifellos.
Vielleicht gingen der Schülerin einfach die supervirilen Würstchen auf die Nerven, die sich seit Erfindung der Schule vor anderen geil aufspielen, um „geile Weiber“ zu beeindrucken – und Mädchen, die als nicht begehrenswert gelten, mobben.
Im Freundes- und Bekanntenkreis des Punkermädchens gehen die Meinungen über das Video jedenfalls auseinander. An einem warmen Donnerstagmittag sitzen und stehen etwa fünfzehn Emos, Punks, Outsider aller Farb-, Geschlechter- und Altersgruppen nicht weit vom „Emobaum“ im Stuttgarter Schlossgarten, hören elektronische Musik mit heftig BPMs aus Bluetooth-Boxen, quäken sich gegenseitig vergnügt an und pfeifen nach ihren Hunden.
Ein Typ mit Dreadlocks hat eine riesige, noch nicht geheilte Wunde am Kopf. „Stress mit Nazis in der Königstraße“, sagt eine junge Frau aus einer Gruppe am Rand. Am Ende bekam er eine Flasche über den Kopf gezogen. Ein älterer Mann sitzt auf einem weißen Plastikstuhl und spielt Lieder auf der Gitarre in einer Sprache, die keiner versteht.
Corona macht alle irre – auch die Polizei
„Den Punk“ gibt es hier jedenfalls nicht. Nur viele verschiedene Charaktere, Musikvorlieben, Klamottenstile, Geschlechterrollen und Weltsichten, die je nach Pegel mehr oder weniger friedlich nebeneinander koexistieren. Vereint in der Tatsache, nicht reinzupassen in das, was als Gesellschaft gilt.
Alina, Liss und Aiden haben Lust zu reden. Eigentlich erst mal nur Alina. Die „Parkmutti“ ist Halbitalienerin. Sie kümmere sich um alles hier, erzählen die anderen später. Die „Bullen“ hätten ihr erst kürzlich den Pass abgenommen. „War abgelaufen“, sagt die 21-jährige Mutter eines kleinen Jungen. Kein Pass. Kein Schnorren. Dass ein abgelaufener Pass doch immer noch besser sei als gar kein Pass, hätten die Beamten nicht einsehen wollen. Liss und Aiden schließen sich der Diskussion an und wollen über das Video sprechen. Und über Jay – das Mädchen aus dem Video.
Die Aktion von Jay findet Alina dumm. Das werfe ein falsches Licht auf ihre Szene. Aber noch dümmer findet sie die Typen, die die Läden kaputtgemacht haben. „Ich hätte mich dazugestellt, wenn ich da gewesen wäre“, sagt Alina und lacht. „Aber ich hätte vielleicht nix kaputtgemacht.“ Die Energie müsse raus, der Coronawahnsinn mache die Leute komplett irre. Auch die Polizei. „Die leuchten nachts ewig mit Taschenlampen in unsere Gruppe, obwohl wir nur rumsitzen und labern“, ergänzt Liss. Wilde Mähne, Augen-Make-up wie eine Kriegerin. „Ist doch klar, dass man dann angepisst ist.“ Die 15-Jährige kommt seit fünf Jahren her, wiederholt gerade die Neunte, weil sie frisch aus der Entzugsklinik kommt.
Nach und nach wird der Sitzkreis größer. Alle sind sich einig: Die Polizei ist dumm. Das sieht die Parkmutti so. Das sieht Aiden ähnlich: „Die kommen manchmal einfach zu uns und glotzen uns minutenlang übel strange an. Total psycho. Dann gehen sie wieder“, erzählt der 16-jährige trans Junge und greift nach „Franz Transbert“ – einem abgewetzten Schießbuden-Teddy mit Herz zwischen den Tatzen. Wer als Mädchen auf die Welt kommt, aber keines sein will, wird hier akzeptiert.
Und jetzt auf Mediendeutsch
Das Mädchen aus dem Video, Jay, ist eine enge Freundin von Aiden. Seit dem Video gehe es Jay immer schlechter. Vor allem, weil das Interview viel länger gewesen sei und sie nur die eine Stelle im Fernsehen gezeigt hätten. Jay werde seitdem so fertiggemacht, dass sie mehrmals an Suizid gedacht habe, sagt Aiden.
Zusammen mit Jay hat Aiden deshalb eine Mail an die Verantwortlichen von „Report Mainz“ geschrieben. Weil es nicht einmal eine Einverständniserklärung zum Interview gegeben habe, forderten die beiden die Redaktion auf, das Video aus dem Internet zu löschen oder aber das komplette Material zu veröffentlichen. Sie erklärten, dass Jay sogar bereit wäre, ihre Anzeige gegen ihre Mitschüler zurückzuziehen. Noch mal mit Medienleuten reden mag Jay nicht, sagt Aiden genervt nach zwei Kontaktversuchen. Dabei könne sie „die Scheiße, die sie gemacht habe“ ja richtigstellen, sagt Aiden. „Gut. Ihre Entscheidung.“
Die Redaktion von „Report Mainz“ reagiert erst nach einem zweiten Anlauf und erklärt den beiden in einer Mail auf Beamtendeutsch, dass man sich nichts vorzuwerfen habe. Das Interview sei in „völligem Einverständnis mit der Gruppe“, zu der auch Jay gehört, zustande gekommen. „Die Gruppe hat sich aus eigener Initiative dem Kamerateam genähert und dann bereitwillig und bewusst offen vor der Kamera Auskunft gegeben“, schreibt Gottlob Schober, Chef vom Dienst der SWR-Abteilung „Inland/Report Mainz“ in seiner Antwort – und versucht Jay und Aiden noch virtuell auf die Schultern zu klopfen, indem er betont, dass Jays Äußerungen von „positiv einzuordnendem Verantwortungsbewusstsein zeugen und so durchaus Gegenstand journalistischen Berichterstattungsinteresses“ wären.
Ein Wort, so erbarmungslos präzise wie ein Skalpell, das zeigt, wie weit weg die meisten PolizistInnen, RedakteurInnen, PolitikerInnen und die „Gesellschaft“ im Allgemeinen von Realitäten außerhalb ihrer eigenen Bubble sind. Gelöscht wurde das Video letztendlich trotzdem auf allen Social-Media-Kanälen des SWR und der ARD. Auf allen anderen Seiten der Sender wurde Jays Gesicht verpixelt und die Stimme nachgesprochen. Zu spät.
Kollektive Hechtsprünge
Punk in Stuttgart ist nicht tot. Er hatte eben auch hier nie den Anspruch, irgendwem zu gefallen. Selbst nicht den Linksalternativen. Die durchintellektualisierte Version von Punk zeigt aber mit dem Finger auf andere und wirft sich im kollektiven Hechtsprung vor die „Eventszene“, weil Rassismus ja aber mal so gar nicht geht. Sie kleckert beim Influencen teures Ben&Jerry’s-Eis in ihr MacBook Air und erhebt sich mit allen Diskurswässerchen gewaschen über ein Punker-Kiddie, das strukturell demselben Subproletariat angehört wie die, die in der Krawallnacht in Stuttgart randalierten und plünderten.
Das soll nicht heißen, dass bedingungsloser Antirassismus nicht absolute BürgerInnen-Pflicht und integraler Bestandteil der Linken sein muss. Es soll nur heißen, dass mit linker Arroganz keine Warum-Fragen geklärt werden können. Und mit fehlendem Klassenverständnis keine Revolution zu machen ist. „Sid Vicious würde sich im Grab umdrehen!“, schreibt ein Schlaubi unter eines von so vielen geteilten Video mit Jay. Würde Sid Vicious im Stuttgarter Schlossgarten abhängen, hätte sich der Sex-Pistols-Bassist mit Hakenkreuz-Shirt neben Jay gestellt und in die Kamera gespuckt.
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