Politologin über Bürgerräte: „Streit wird dort gezähmt“
Volksabstimmungen vertiefen die bestehenden Gräben in der Gesellschaft, sagt die Politologin Patrizia Nanz. Sie plädiert für Bürgerräte als Demokratieschulen.
taz: Bayerns Ministerpräsident Horst Seehofer fordert neuerdings bundesweite Volksentscheide. Sie betrachten das Verfahren mit Skepsis. Warum?
Patrizia Nanz: Weil starke Interessengruppen solche Kampagnen für ihre Zwecke an sich reißen können. Es besteht die Gefahr, dass die Bevölkerung in eine Ja- und eine Neinfraktion gespalten wird, wobei keine der angebotenen Alternativen das Problem behebt.
Sie würden ungern bundesweit darüber abstimmen, wie viele Flüchtlinge Deutschland aufnimmt oder ob wir in der EU bleiben?
Ja, ich würde mir bei solchen Volksabstimmungen große Sorgen machen. Denn es ist nicht gesichert, dass es vorher ausreichend Raum für eine gemeinschaftliche Meinungsbildung gibt. Die sozialen Medien verhindern zunehmend, dass Menschen aus unterschiedlichen politischen Lagern miteinander ins Gespräch kommen. Dadurch gedeihen radikale, unreflektierte Einstellungen. Gerade bei großen Fragen, die an die Verfassung rühren, wäre ich deshalb vorsichtig. Aus gutem Grund gibt es in Deutschland Plebiszite nur bei lokalen und regionalen Anliegen.
Sie plädieren für Bürger- und Zukunftsräte. Dabei werden nach dem Zufallsprinzip Einwohner aus den Listen der Meldeämter ausgelost, damit sie sich gemeinsam Gedanken über Politik machen. Was ist daran besser als eine Volksabstimmung?
Demokratie wird heute massiv untergraben von einem Mangel an Zusammenhalt in der Gesellschaft. Volksabstimmungen befördern diese Spaltung eher. Bürgerbeteiligung schafft Orte, in denen Demokratie von Angesicht zu Angesicht gelebt wird. Wenn aber jeder mitreden kann, setzen sich die sogenannten Berufsbürger durch, die immer mitmischen und das Wort ergreifen. Bei einer Zufallsauswahl besteht dagegen die Chance, auch Leute heranzuholen, die unvoreingenommener sind und mehr das Gemeinwohl im Blick haben. Außerdem treffen dann Menschen aus unterschiedlichen sozialen Milieus zusammen, die im gewöhnlichen Leben nie miteinander sprechen würden.
Wie laufen solche Diskussionen ab?
In Bürgerräten herrscht eine Pluralität der Wertvorstellungen und Meinungen. Plötzlich sind Stimmen zu hören, die sonst nicht zu Wort kommen. Gerade aus dieser Vielfalt kann eine gemeinsame Welt erst wieder entstehen. Streit und Leidenschaft haben dort auch ihren Platz, aber sie werden gezähmt.
51, ist Wissenschaftliche Direktorin am Potsdamer Institut für Nachhaltigkeitsforschung, Autorin und Expertin für Beteiligungsverfahren.
Weil man sich manches nicht zu sagen traut, wenn der Mensch mit der anderen Meinung direkt gegenübersitzt?
Bürgerräte werden durch professionelle Moderatoren unterstützt. Sie schaffen den Raum dafür, dass Bürger einander zuhören, zu lernen bereit sind, ihre persönlichen Wunschzettel beiseite legen und selbst bei kontroversen Fragen Lösungsvorschläge erarbeiten. Der Mensch ist in der Lage, Empathie für andere zu empfinden. In den sozialen Netzwerken lässt sich diese Regung viel schwerer herstellen.
Warum?
Die sozialen Medien zergliedern die Gesellschaft in isolierte Echokammern, in denen der Sound der jeweils eigenen Community dominiert. Wenn dagegen Bürger tage- oder monatelang zusammen an einem Problem arbeiten, ergeben sich neue Bindungen, die die Menschen beflügeln. Aus Begegnung wird gemeinsames Handeln.
Die europäische Idee gerät gerade unter die Räder. Könnte das Verfahren, das Sie vorschlagen, Europa wieder attraktiver machen?
Ich denke, ja. Mein Kollege Claus Leggewie und ich haben die Idee eines europäischen Zukunftsrates entworfen, der ähnlich funktioniert wie ein Bürgerrat. Wir hegen die Hoffnung, dass sich die Entfernung zwischen Brüssel und den Bürgern damit vermindern ließe.
Wie groß müsste ein annähernd repräsentatives Bürgergremium für 27 EU-Staaten sein?
Mit einem Gremium kommt man nicht aus, um die Vielfalt der europäischen Gesellschaften abzubilden. Wir befürworten ein transnationales Netz von lokalen, regionalen und nationalen Zukunftsräten, die schließlich gemeinsame Empfehlungen an die EU-Institutionen schicken.
Wäre das Votum dieser Räte bindend?
Nein. Zukunftsräte sollten die Politik nur beraten. Denn es geht darum, die repräsentative Demokratie zu stärken und zu beleben, nicht sie zu schwächen. Die letzte Entscheidung muss bei den Politikern liegen. Sie werden dafür gewählt, Verantwortung zu übernehmen.
Werden die Gremien nicht als Feigenblatt wahrgenommen, wenn sich die Politiker nicht an die Empfehlungen halten müssen?
Nein. Die Politik muss verpflichtet werden, den Räten verbindliche Rückmeldungen zu geben, wie sie mit den Vorschlägen der Bürger umgehen will. Wenn diese Begründungspflicht existiert, kann Beteiligung politischen Druck erzeugen und damit auch Relevanz bekommen. In Vorarlberg werden die meisten Vorschläge von der Politik aufgegriffen. Bürgerräte werden als Ideengeber sehr geschätzt.
Gibt es in Deutschland Beispiele für Bürgerräte?
Das Bundesumweltministerium hat in den letzten Monaten erfolgreich Bürgerräte in sechs großen Städten durchgeführt. Anwesend waren auch Staatssekretäre und Ministerin Barbara Hendricks. Die von den Bürgern erarbeiteten Empfehlungen sind im Umweltprogramm 2030 aufgenommen.
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