Politologe über Parteien in Deutschland: „Der soziale Kitt ist aufgelöst“
Das Parteiensystem ist in der Krise. Gut überstehen werden diese nur die Grünen, die AfD, eventuell auch das BSW, behauptet der Politologe Jan Gerber.
taz: Herr Gerber, liest man Ihren Essay zu Ende, stellt man sich die Frage: Gehört die Zukunft in Deutschland zwei Parteien?
Jan Gerber: Wenn Sie die AfD und die Grünen meinen, dann haben Sie sicher recht. Beide Parteien werden die Krise der Gegenwart, die auch eine Krise des Parteiensystems ist, wohl gut überstehen. Das Bündnis Sahra Wagenknecht hat auch gute Chancen darauf, allerdings befindet es sich noch in der Konsolidierungsphase. Da ist noch vieles offen. Gemeinsam ist ihnen aber, dass sie die alltagsweltlichen Erfahrungen der meisten Menschen deutlich besser bedienen als die SPD, die Linke oder die CDU.
Trotz der immensen programmatischen Unterschiede, die es gerade zwischen AfD und Grünen gibt, setzen alle drei Parteien auf Emotionalisierung, Polarisierung, Reflex und Beschleunigung. Das entspricht ganz dem populistischen Zeitgeist. Populismus ist weniger Programm als Politikstil.
taz: Sie schreiben, populistische Parteien seien unter anderem gekennzeichnet durch flache Hierarchien, programmatische Unverbindlichkeit, Zwang zur Unverwechselbarkeit, einen saloppen Gestus und permanente Neuerfindung. Wie kann man all diese Schlagworte zusammenfassen?
ist Historiker und Politikwissenschaftler. Zuletzt hat er die Hallischen Jahrbücher zum Thema „Das Zeitalter des Populismus“ mitherausgegeben, in dem sein gleichnamiger Essay erschien. Christoph Beyer u. a. (Hg): „Hallische Jahrbücher 2: Das Zeitalter des Populismus“. Edition Tiamat, Berlin 2024, 408 Seiten, 24 Euro.
Gerber: Unser Bild politischer Parteien ist vom Kalten Krieg und von der fordistischen Industriegesellschaft geprägt. Sie war durch große Betriebe gekennzeichnet, halbwegs homogene Milieus, vereinheitlichte Produktion und Konsumtion. Die Parteien, die diese Zeit geprägt haben – hierzulande vor allem CDU und SPD –, waren die parteipolitischen Entsprechungen des Fordismus. Ähnlich kollektiv wie in die Fabriken strömten die Leute in die Parteien. Ihr schwerfälliger Apparat, die langwierigen Entscheidungsprozesse und klaren Hierarchien entsprachen den Erfahrungen des damaligen Arbeits- und Alltagslebens.
Allerdings verwandelte sich die Industriegesellschaft schon in den 70ern in eine Dienstleistungsgesellschaft. An die Stelle der Imperative der Industriegesellschaft traten neue, vor allem in den letzten 30 Jahren: Flexibilität, permanente Erreichbarkeit, Einzigartigkeit, stetige Neuerfindung. Mit dieser Veränderung von Produktion und Alltagsleben erodierten auch die sozioökonomischen Grundlagen des alten Parteiensystems. Die klassischen Parteien kamen den alltäglichen Erfahrungen immer seltener entgegen.
taz: Hier kommen die populistischen Parteien ins Spiel.
Gerber: Sie entsprechen den Erfahrungen der inzwischen flexibilisierten Dienstleistungsgesellschaft wesentlich stärker als die Parteien des Industriezweitalters.
taz: Das Ende des Kalten Kriegs hatte langfristige Folgen für unser Sozialsystem, schreiben Sie, für Sie einer der Katalysatoren für den Aufstieg des jüngeren Populismus.
Gerber: Wie viele andere westliche Staaten basierte die alte Bundesrepublik auf einem Sozialkompromiss. Dafür gab es viele Gründe, einer davon war antikommunistisch. Man wollte sich im Vergleich mit dem Ostblock auch sozialpolitisch als besseres System darstellen. Zumindest das war ab 1989/90 nicht mehr nötig. Deshalb begannen viele Länder, ihre Sozialsysteme zu schleifen.
taz: In Deutschland wurde 2004 Hartz IV eingeführt.
Gerber: Genau. Deutschland hatte sich zusätzlich mit der Wiedervereinigung verhoben. In Sachen Wirtschaftswachstum war es Ende der 90er das Schlusslicht der gesamten Eurozone. Man sprach vom „kranken Mann Europas“. Auch vor diesem Hintergrund wurde das bisherige Sozialsystem reformiert, im Grunde aber geschreddert. Bis dahin wurde signalisiert, dass niemand zurückgelassen wird, zumindest nicht allzu weit. Seit Hartz IV gilt das Gegenteil, das Piratenmotto aus „Fluch der Karibik“: „Wer zurückbleibt, wird zurückgelassen.“ Damit wurde der soziale Kitt der alten Bundesrepublik aufgelöst, eine enorme Panik vor dem eigenen Abstieg wurde freigesetzt.
taz: Ihre These ist, der AfD sei es gelungen, diese „diffuse Panik“ zu bündeln. Ist das nicht etwas gewagt? Immerhin spricht die AfD nie von Hartz IV.
Gerber: Das stimmt. Die AfD ist im Wortsinn eine asoziale Partei. Denken Sie nur an die weitere Deregulierung des Arbeitsmarktes, die sie fordert. Trotzdem konnte sie sich das Image einer Partei der Besitzstandswahrung zulegen, das die CDU verloren hat. Image und Realität fallen nicht nur bei Popstars auseinander. Allerdings hat die AfD das Image der Besitzstandswahrung nicht direkt erworben, sondern in verschobener Form, über den Umweg der Migrationspolitik.
taz: Sie spielen auf die sogenannte Migrationskrise an?
Gerber: Die Politik der AfD ist hochgradig projektiv. Sie tut so, als gäbe es ohne Migration Friede, Freude, Eierkuchen. Das ist demagogisch. Trotzdem hat die Kritik der Zuwanderung rationale Anteile, das macht die Debatte so kompliziert. Was die Leute heutzutage emotional an die Nation bindet, ist das Sozialsystem: Rente, Sozialversicherung, Bildung. Dieses System wurde schon durch Hartz IV zerschossen, mit der Flüchtlingskrise kamen neue Herausforderungen dazu. Am Ende verhalten sich die Gegner verstärkter Zuwanderung kaum anders als der Deutsche Bauernverband, der Schutzzölle für Rindfleisch aus Argentinien fordert. Es geht um Besitzstandwahrung und Ausschaltung lästiger Konkurrenz.
taz: Vom Faschismusvorwurf gegenüber dem rechten Populismus nehmen Sie Abstand. Warum?
Gerber: Ich halte ihn für falsch. Auch wenn der Populismus sicher anziehend für Freunde autoritärer Lösungen ist, gibt es strukturelle und programmatische Unterschiede. Strukturell: Der historische Faschismus und der Nationalsozialismus waren Massenbewegungen und beruhten auf einem Bündnis mit den alten Eliten. Im Unterschied dazu hat der Populismus weder eine schlagkräftige Massenbasis noch setzen die alten Eliten in Wirtschaft, Politik und Gesellschaft auf ein Bündnis mit ihm, zittern sogar vor ihm.
taz: Und programmatisch?
Gerber: Der permanente Kampf, der Krieg und die revolutionäre Umwertung aller Werte, auf denen der Faschismus basierte, sind für die meisten Populisten Horrorvorstellungen. Statt des jugendbewegten Selbstopfers, das für Mussolini und Co. wichtig war, sehe ich eher betagten Selbsterhalt. Das heißt nicht, dass der Aufstieg des Populismus keine Katastrophe ist. Man kann ihr allerdings nicht wirkungsvoll begegnen, wenn man falsche historische Analogien bemüht.
taz: Die Grünen haben in den 70ern und 80ern durch ihre Problematisierung der negativen Symptome der Industriegesellschaft den Wandel zur Dienstleistungsgesellschaft vorangetrieben. Die AfD ist nun so etwas wie eine Antwort darauf, die in der Form des Neuen das Alte bewahren möchte. Wie lässt sich diese Gemengelage auf den Punkt bringen?
Gerber: Der Kalte Krieg war ein weltanschaulicher Konflikt zwischen Freiheit und Gleichheit. Im Westen vor allem ökonomisch bedingte Freiheit, im Osten repressive Gleichheit. Dieser Gegensatz ist im Kalten Krieg tendenziell mit dem Widerspruch von links und rechts verschmolzen. Die neueren Parteien liegen oft quer dazu. Noch ist nicht klar, ob es einen neuen großen Wertekonflikt geben wird und wie er aussehen wird. Gerade scheint es aber so, als würde der Gegensatz zwischen materiellen und postmateriellen Werten bestimmend werden. Das schlägt sich hierzulande auch im Gegenüber von AfD und Grünen nieder.
taz: Nun befinden sich die traditionellen Parteien in einer fundamentalen Krise. Zum einen ist ihre Glaubwürdigkeit verloren: Die SPD führte Hartz IV ein, die CDU öffnete die Grenzen. Zum anderen scheint man – siehe Scholz und Merkel – keine richtige Lust mehr zu haben, Führung aktiv zu gestalten. Wie können diese Probleme behoben werden?
Gerber: Es gibt ein noch größeres Problem als den Verlust von Glaubwürdigkeit. Union und SPD sind Parteien älteren Typs, so wie ich das ausgeführt habe. Sie passen in ihrer bisherigen Form nicht ins Zeitalter des Populismus, in dem wir leben. Wenn sie nicht untergehen wollen, müssten sie sich dem Populismus stilistisch annähern. Das versuchen sie tendenziell auch schon. Sollte es ihnen gelingen, dann wäre das aber kein wirklicher Erfolg. Denn durch Emotionalisierung, Polarisierung, Reflex und Beschleunigung wird nichts besser, im Gegenteil. Ich bin in dieser Hinsicht also wenig optimistisch.
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