Politologe Heins über offene Grenzen: „Angst durch Hoffnung ersetzen“
Die neue Lust, in größeren Maßstäben zu denken: Politologe Volker M. Heins über Migrationsrouten, offene Grenzen und notwendige Utopien.
taz: Herr Heins, Sie selbst bezeichnen Ihre Idee offener Grenzen für alle als eine „Utopie“. Aber brauchen wir in Zeiten globaler Krisen nicht eher pragmatischen Realismus als utopisches Denken?
Volker M. Heins: Pragmatischer Realismus und Utopie müssen sich ja nicht ausschließen. Auch wer „auf Sicht fährt“, sollte sich überlegen, wohin die Reise geht. Wir haben uns zu lange damit begnügt, nicht mehr über den nächsten Schritt hinaus zu denken. Aber in der Zwischenzeit ist in der Gesellschaft etwas Neues entstanden: eine neue Lust, wieder in größeren Maßstäben zu denken und herauszukommen aus einer Politik des bloßen Reagierens auf Ereignisse. Die Utopie offener Grenzen, die innerhalb Europas längst Wirklichkeit ist, reagiert auf diese Lust, wieder größer und langfristiger zu denken.
Nationalstaaten sind aber doch weiterhin unverzichtbar, oder? Wie geht das mit offenen Grenzen zusammen?
Staaten sind im Rahmen ihrer internationalen Verpflichtungen frei darin, ihre Grenzen mehr oder weniger durchlässig zu gestalten. Daran möchte ich im Prinzip gar nicht rütteln. Allerdings bin ich für eine Stärkung der Kräfte, die innerhalb von Nationalstaaten dafür kämpfen, dass die hochgezogenen Brücken der eigenen Festung wieder heruntergelassen werden. Auch außereuropäische Staaten und Gesellschaften werden zunehmend darauf drängen, an Entscheidungen über Fragen einer künftigen globalen Mobilitätsordnung beteiligt zu werden. In den Verhandlungen über ein Freihandelsabkommen mit Großbritannien nach dem Brexit hat Indien bereits auf Visaerleichterungen bestanden.
Haben wir in Zeiten des Lockdowns nicht alle gemerkt, dass freie Mobilität eines der höchsten Güter und durch einen Pandemie-Shutdown ähnlich schwer einzuschränken ist wie globale Migration durch geschlossene Grenzen?
So ist es. Für einen Augenblick haben wir gespürt, wie es ist, wenn unsere begehrten Pässe nicht mehr als globale Türöffner funktionieren und wir nicht einmal mehr ohne Weiteres nach Österreich kommen. Freiheit ist eben mehr als Gedanken- und Meinungsfreiheit. Die körperliche Dimension der Bewegungsfreiheit war zu lange in Vergessenheit geraten.
In Deutschland lag das private und öffentliche Leben über ein Jahr weitgehend lahm. Gleichzeitig finden Abschiebungen von Geflüchteten längst wieder statt. Was wirft das für ein Bild auf unser Land?
Nun ja, im Coronajahr 2020 ist die Zahl der Abschiebungen zunächst einmal stark zurückgegangen. Sie war nicht einmal halb so hoch wie im Vorjahr. Trotzdem: In dem Buch argumentiere ich grundsätzlich gegen die Abschiebungen all derer, die nicht straffällig geworden sind und auch sonst niemandem Schaden zufügen.
Wie konnte es eigentlich passieren, dass in unserer sich immer weiter globalisierenden Welt zugleich immer härtere Grenzregime entstehen?
Mit der wachsenden Verwobenheit der Welt und der Erweiterung der Horizonte wächst das Bedürfnis nach sozialräumlicher Bewegungsfreiheit. Militarisierte Grenzregimes sind eine erschreckend gewaltsame und fantasielose Antwort auf den wachsenden Mobilitätsbedarf besonders von Menschen aus dem globalen Süden. Letztlich sind sie der vergebliche Versuch, eine „weiße“ Parallelgesellschaft auf der Erde zu erhalten oder wiederherzustellen.
Eines der Hauptargumente gegen offene Grenzen lautet, dass sich dann sofort die halbe Welt auf den Weg zu uns macht. Gibt es da nicht wirklich so etwas wie „Kapazitätsgrenzen“?
Menschen wandern typischerweise von ärmeren in reichere Regionen, wo sie auf ein besseres und friedlicheres Leben hoffen. Mein erster Satz lautet, dass sie dazu erst einmal alles Recht der Welt haben. Zwischen 1840 und 1940 sind zwischen 50 und 60 Millionen Europäerinnen nach Nord- und Südamerika ausgewandert. Im selben Zeitraum haben sich ungefähr genauso viele Inderinnen und Chinesen in Südostasien und an den Küsten des Indischen Ozeans niedergelassen. Andere sind aus Russland in die Mandschurei und nach Zentralasien gezogen.
ist Permanent Fellow am Kulturwissenschaftlichen Institut Essen (KWI) und lehrt Politikwissenschaft an der Universität Duisburg-Essen. Er ist Mitglied im Rat für Migration e. V. Sein Buch: „Offene Grenzen für alle. Eine notwendige Utopie“. Hoffman & Campe, Hamburg 2021, 224 S., 22 Euro
Man stelle sich vor, Politiker in den Zielländern all dieser Wanderungsbewegungen hätten damals in New York oder Shanghai darüber beraten, wie sie die Ursachen dieser Wanderungen bekämpfen sollten, die Russinnen, Inder oder Italiener zum Aufbruch veranlassten. Hätten sie Hilfsprogramme aufstellen oder Plakate und später Filme zeigen sollen, die den Auswanderungswilligen deutlich gemacht hätten, dass Amerika und die großen Küstenstädte Chinas doch nicht so toll waren, wie sie glaubten? Das ist unrealistisch. Immer sind Menschen dahin gewandert, wo es Arbeit oder Land gab und folglich keine „Kapazitätsgrenzen“. Und fast immer sind sie bei Teilen der Bevölkerung auf Abwehr und Rassismus gestoßen.
Würde dann also mehr Zuwanderung den Rassismus bei uns nicht erst recht schüren?
Schon gegen Ende des 19. Jahrhunderts vertraten Politiker in Kalifornien den Irrglauben, dass man den antichinesischen Rassismus am besten dadurch bekämpft, dass man keine Chinesen mehr ins Land lässt. Tatsächlich verlief die Entwicklung genau andersherum. Erst mit der massiven Ausweitung und Normalisierung der chinesischen Einwanderung verlor allmählich auch das antichinesische Ressentiment seinen politischen Stachel. Nur eine vielfältige Gesellschaft schützt vor Rassismus.
Meistens sind es vor allem die besser Ausgebildeten, die ihr gefährliches oder perspektivarmes Heimatland verlassen. Werden diese Menschen zu Hause nicht viel dringender gebraucht als bei uns?
Das ist das paternalistische Argument, das auch viele nationale Linke wie etwa Sahra Wagenknecht verwenden und mit dem schon der Bau von Mauern gerechtfertigt wurde. Ich bin zwar auch gegen die aggressive Abwerbung etwa von Krankenschwestern aus Ghana oder Mexiko, aber letztlich immer dafür, dass migrationswillige Personen selbst entscheiden, wo sie leben und arbeiten möchten.
Wenn offene Grenzen so viele Vorteile haben, warum haben wir sie nicht längst?
Die kurze Antwort lautet, dass Politiker oft mit Rassismus ihre Wähler mobilisieren können. Angst ist ein ebenso schlechter wie oft konsultierter Ratgeber. Es wird behauptet, dass da draußen, hinter den hohen Mauern, „zu viele“ darauf lauern, zu uns zu kommen, und dass die Ausgeschlossenen „zu anders“ sind für unsere Verhältnisse. Die Grenze zwischen Europa und Afrika, die durchs Mittelmeer läuft, oder die Grenze zwischen den USA und Mexiko, werden mit dem Angstschweiß weißer Männer (und Frauen) gezogen. Das Verrückte daran ist, dass diese Grenzen lange Zeit viel offener waren als heute. Bis in die achtziger Jahre war es für Menschen zum Beispiel aus dem Senegal noch relativ leicht, ein Arbeitsvisum in Frankreich zu bekommen. Zehntausende Senegalesen arbeiteten allein in der französischen Automobilindustrie. Erst mit Inkrafttreten des Schengener Abkommens wurde eine Visumspflicht für sie und andere ehemalige Kolonien eingeführt. Schengen wirkte wie ein großer „Weißmacher“ Europas.
Wie sähe Ihre Utopie der offenen Grenzen ganz konkret aus, sagen wir in den nächsten zehn, zwanzig Jahren?
Die grundsätzliche Aufgabe besteht darin, Angst durch Hoffnung zu ersetzen, also den Popanz der „Islamisierung“ oder neuerdings „Afrikanisierung“ Europas durch das Bild einer gemeinsam gestalteten „afropäischen“ Zukunft. Wir sollten vor und nach der Bundestagswahl daran erinnern, dass es lange Zeit legale Migrationsrouten aus dem globalen Süden nach Europa gab, die erst vor Kurzem gekappt wurden. Und dass solche Routen im Interesse aller behutsam wiedereröffnet werden sollten, so wie man stillgelegte Bahnstrecken wiederherstellt.
Erste Vorschläge werden ja längst diskutiert und gehören in künftige Koalitionsverhandlungen: eine Liberalisierung des Aufenthaltsrechts („Spurwechsel“ für abgelehnte Asylbewerberinnen), befristete Arbeitsvisa gegen Kaution, Schnupper-Visa und „Talentkarten“ auch für die Köchin aus Mali oder den Lehrer aus Tunesien. Das wären die ersten Schritte.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Nan Goldin in Neuer Nationalgalerie
Claudia Roth entsetzt über Proteste
Politikwissenschaftlerin über Ukraine
„Land gegen Frieden funktioniert nicht“
Scholz und Pistorius
Journalismus oder Pferdewette?
Krieg in der Ukraine
Geschenk mit Eskalation
Krieg in der Ukraine
Kein Frieden mit Putin
taz-Recherche zu Gewalt gegen Frauen
Weil sie weiblich sind