Politologe Butterwegge über AfD-Jahrestag: „Gefahr droht ihr von innen“
Politikwissenschaftler Butterwegge hat die AfD in ihrem ersten Jahr im Bundestag beobachtet. Sein Fazit: Es hat sie kaum diszipliniert.
taz: Herr Butterwegge, die AfD sitzt jetzt ein Jahr im Bundestag, Sie haben dazu gerade mit zwei KollegInnen ein Buch veröffentlicht. Was hat sich in den Jahr mehr verändert: Die AfD-Fraktion oder der Bundestag?
Christoph Butterwegge: Eindeutig der Bundestag. Die AfD-Fraktion hat sich viel weniger verändert, als man das bei Parteien, die neu in den Bundestag einziehen, gewöhnt ist. Normalerweise wirkt dieser Einzug ja disziplinierend – das hat man zum Beispiel bei den Grünen gesehen. Dies scheint bei der AfD aber nicht der Fall zu sein. Offenbar stehen die AfD-Abgeordneten unter einem stärkeren Druck ihrer Basis, zu zeigen, dass sie im Bundestag genauso radikal und rabiat auftreten wie sonst. Umgangston und soziales Klima im Bundestag haben sich sehr verändert.
Am Anfang gab es dort vor allem moralische Empörung über die AfD, dann hieß es, man müsse ihre Abgeordneten inhaltlich stellen. Gelingt das?
Was die Reden im Bundestagsplenum betrifft, könnte man sich argumentativ überzeugender mit der AfD auseinandersetzen. Das passiert häufig nicht oder nur sehr inkonsequent. Zum Teil verweigern sich die Mitglieder der anderen Fraktionen, indem sie beispielsweise keine Zwischenfragen von AfD-Abgeordneten zulassen. Dabei ließen sich deren zum Teil von wenig Sachkenntnis zeugenden Beiträge gut widerlegen. Es hilft alles nichts: Man muss mit ihnen reden, ohne allerdings wie sie zu reden.
Die Begründung lautet in diesen Fällen oft: Wir wollen der AfD keine Bühne bereiten. Keine gute Idee?
Das klingt vernünftig, fraglich ist nur, ob diese Verweigerungshaltung bei einer Partei noch als Gegenstrategie funktioniert, die ab dem kommenden Wochenende in allen deutschen Parlamenten vertreten sein wird, was über einen längeren Zeitraum hinweg nur Union und SPD gelungen ist. Über das Frühstadium, in dem man eine Partei nicht ernst nehmen muss, sind wir, glaube ich, bei der AfD längst hinaus. Sie ist dabei, ein fester Bestandteil des deutschen Parteiensystems zu werden, und keine Außenseiterin mehr, der man mit Ignoranz begegnen kann. Jetzt kommt es vielmehr auf überzeugende Argumente an.
Was würden Sie empfehlen?
Die demokratischen Fraktionen müssen gemeinsam das parlamentarische System verteidigen, das die AfD verachtet und verächtlich macht. Sie müssen es jedoch vermeiden, die zwischen ihnen fortbestehenden Unterschiede und inhaltlichen Gegensätze zu verwischen. Wenn der Eindruck entsteht, dass die AfD als einzige oppositionelle Kraft im Bundestag einem monolithischen Block der übrigen Parteien gegenübersteht, wird sie noch stärker.
Wo sehen Sie inhaltliche Angriffsfelder?
Eine Schwachstelle der AfD bildet, dass sie die Partei der kleinen Leute sein will, im Parlament aber ständig als Partei des großen Geldes in Erscheinung tritt. Nicht nur hinsichtlich ihrer finanziellen Quellen, die im Dunkeln liegen. Sondern auch in Bezug auf ihre Steuerpolitik, ihre Beschäftigungspolitik, ihre Sozialpolitik und ihre Rentenpolitik, ja selbst ihre Familienpolitik. Da soll nicht die Familie als solche geschützt werden, sondern nur die deutsche Familie als Keimzelle des Volkes, das angeblich mehr Kinder braucht, um nicht auszusterben. Wenn die Familien- zur Bevölkerungspolitik verkommt oder Sozial- und Rentenpolitik so gut wie gar nicht stattfinden, kann man die AfD inhaltlich stellen.
Also weniger über Migrationspolitik, sondern über andere Felder sprechen?
Die AfD bringt jedes Thema unweigerlich mit Zuwanderung und Flucht in Verbindung. Das ist ihre Grundausrichtung. Wenn man diese Art der Verknüpfung von Diskursen mitmacht, wie das zum Beispiel monatelang in TV-Talkshows geschehen ist, dann hat man schon verloren. Man muss zwar durchaus akzeptieren, dass es im Kernbereich der AfD-Propaganda viele Probleme gibt, aber man darf ihn sich nicht als Schlüsselthema aufdrücken lassen, um das sich alles dreht. Stattdessen muss man die übrigen Themen davon entkoppeln. Für jede Partei, die sich als links versteht, gilt: Statt wie die AfD die soziale mit der nationale Frage zu verbinden, sollte sie die demokratische mit der sozialen Frage verbinden. Sie müsste also vermitteln, dass nicht Migration die Mutter aller politischen Probleme ist, wie Bundesinnenminister Seehofer meint, sondern soziale Ungleichheit.
Die AfD hat bei der Bundestagswahl gerade 12,6 Prozent der Stimmen bekommen. Wie viel Einfluss hat sie damit?
In bestimmten Politikbereichen ist der enorm: Flucht und Migration gehören dazu, Innere Sicherheit und Kriminalität auch. Da beeinflusst die AfD die parlamentarischen Entscheidungen und auch die Regierungsarbeit stark. Denn sie hat den öffentlichen Diskurs nach rechts verschoben. Und das ist ihr wichtigstes Zwischenziel. Sie will im Diskurs hegemonial werden, das Denken der Bevölkerung soll sich also in dem von der AfD gesteckten Rahmen anpassen.
Machen AfD-Abgeordnete überhaupt klassische parlamentarische Arbeit?
Ja, das trifft für einen Teil der Landesparlamente und weitestgehend für den Bundestag zu. Da wird in den Ausschüssen professionell mitgearbeitet. Es gibt eine Doppelstrategie der AfD, die auf der parlamentarischen Ebene als seriöse Kraft auftritt, aber in Chemnitz oder Dortmund mit Neonazis marschieren und Druck auf der Straße machen lässt. In denjenigen Landtagen, wo der völkisch-nationalistische Flügel dominiert, also vor allem in Ostdeutschland, geht es aber weniger um echte Parlamentsarbeit. Da bildet vor allem der Plenarsaal mit seinen Debatten die Bühne. Im Bundestag stimmt die AfD je nach Thema aber durchaus qualifiziert ab – nicht etwa gegen alles, weil es von den „Altparteien“ kommt. Bei der Diskussion um die Abschaffung des Solidaritätszuschlags zum Beispiel gab es interessante Konstellationen. Die AfD will ihn sofort abschaffen, die FDP 2019/20 und die Große Koalition bis 2021 erst mal zu 90 Prozent, danach aber ganz.
In der AfD-Fraktion ist das aber durchaus umstritten: Jürgen-Pohl, AfD-Sozialpolitiker aus Thüringen, will den Soli eigentlich behalten.
Der Soli trifft vor allem Menschen mit hohen Kapitalerträgen und große Konzerne, weil er nicht bloß auf die Einkommensteuer ab einer bestimmten Höhe, sondern auch auf die Kapitalertrag- und die Körperschaftsteuer erhoben wird. Mit ihrer Forderung nach seiner Abschaffung macht die AfD neoliberale Politik, was nicht allen gefällt. Noch eher steht die AfD in der Rentenpolitik vor einer Zerreißprobe. Es gibt den völkisch-nationalistischen Flügel, der sich zu einem „solidarischen Patriotismus“ bekennt, und eine offen wirtschaftsliberale Strömung. In Ostdeutschland kehrt die AfD ihr soziales Gesicht heraus. Aber wenn es zum Schwur kommt, macht der völkisch-nationalistische Flügel bei der sozialen Demontage mit: Björn Höcke zum Beispiel hat in einem Interview erklärt, dass mit Blick auf die demographische Entwicklung ein weiterer Abbau des Sozialstaates unausweichlich sei.
Christoph Butterwegge, 67, ist Politikwissenschaftler, bis 2016 lehrte er an der Universität Köln. Er war bis 2005 Mitglied der SPD, 2017 kandidierte er als Parteiloser für die Linkspartei für das Amt des Bundespräsidenten. Gerade erschien von ihm, Gudrun Hentges und Gerd Wiegel im Westend-Verlag „Rechtspopulisten im Parlament“.
Manche hoffen immer noch, dass sich die AfD am Ende doch selbst zerlegt. Wie wird sich die Partei weiter entwickeln?
Das innerparteiliche Kampffeld wird im kommenden Jahr sicher die Sozialpolitik sein. Dazu soll es ja einen Sonderparteitag in Ostdeutschland geben. Es ist schwer einzuschätzen, wie das ausgehen wird. Die AfD hat in Ostdeutschland hat zwar wenige Mitglieder, ist aber bei Wahlen stark. Und weil es dort 2019 in drei Bundesländern Wahlen gibt, inszeniert sie sich als „soziale Heimatpartei“, wie das auch die FPÖ in Österreich mit großem Erfolg macht. Anderseits sind die westdeutschen Landesverbände der AfD nach ihrer Mitgliederzahl stärker und könnten neoliberale Positionen wie die der Fraktionsvorsitzenden Weidel oder des Parteivorsitzenden Meuthen durchstimmen. Aber es gibt auch inhaltliche Berührungspunkte, zum Beispiel beim Rentenkonzept. Kinderlose benachteiligen – das wollen alle in der AfD.
Was heißt dieser Konflikt für die Zukunft der AfD?
Die AfD hat sich etabliert. Gefahr droht ihr am ehesten von innen. Es hat bereits zwei Spaltungen und Radikalisierungsschübe gegeben, 2005 mit der demütigenden Abwahl von Bernd Lucke und 2017 mit dem Abgang von Frauke Petry. Wenn sich der völkisch-nationalistische Flügel durchsetzt und der Radikalisierungsprozess fortschreitet, könnten weitere Abspaltungen folgen. Gleichwohl besteht die Gefahr, dass die AfD in einer Wirtschaftskrise weiter zulegt. So war das beim Aufstieg der NSDAP, ohne dass ich beide Parteien gleichsetzen will, und bei der NPD nach der Rezession 1966/67.
Der nächste logische Schritt wäre eine Regierungsbeteiligung auf Landesebene. Würde das der AfD nutzen oder sie entzaubern, wie manche meinen?
Sie wird das zuerst in Sachsen anstreben. Und die Rechtslastigkeit der sächsischen CDU lässt das möglich erscheinen. Ich glaube aber nicht, dass eine Regierungsbeteiligung die AfD entzaubern würde, wie selbst manche Linke hoffen. Das hat sich im Falle der FPÖ auch nicht bewahrheitet. Ich befürchte im Gegenteil: Das würde die AfD am Ende stärken.
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