Politischer Pop aus Kurdistan: Klangkunst und Aktivismus

Die Produzentin Antye Greie hat einen Sampler aufgenommen, der die Kämpferinnen im kurdischen Rojava zu Wort kommen lässt.

Uniformierte Frauen mit Flaggen

Kämpferinnen der kurdischen Kampfeinheit YPG in Kobanê Foto: Imago / Sebastian Backhaus

Die Geschichte dieses Musiksamplers beginnt am 13. November 2015. Nicht nur Paris, ganz Europa ist an diesem Tag der Anschläge voller Trauer. Für die Musikproduzentin Antye Greie ist der Abend ein Schlüsselmoment. Greie, die in Ostdeutschland aufgewachsen ist und sich in der internationalen Clubszene einen Namen gemacht hat, will mehr über die Hintergründe der Attacken erfahren.

„Ich arbeite öfter in Paris“, erzählt sie ein knappes halbes Jahr später im Skype-Gespräch, während sie gerade auf Tour ist. „Kurz zuvor war ich noch mit meiner Tochter in Paris gewesen. Der Krieg kam gefühlt näher. Die furchtbare Situation der vielen Emigranten, die im Mittelmeer ertrinken, hat mich beschämt.“ Greie will sich ein Bild machen von der unübersichtlichen Lage in Syrien. Sie will verstehen, wie der IS dort agiert. Und wer ihn bekämpft.

Noch in der Nacht der Anschläge – sie ist mal wieder auf Tour, in Japan – verfolgt sie jeden Tweet im Netz. Über den Hashtag #twitterkurds liest sie Berichte vom Kampf der Kurden gegen den IS, gegen al-Nusra und andere Kriegsparteien. „Drei Monate lang habe ich mich dann in diesen Konflikt vertieft“, sagt sie, „ich wollte mir klar darüber werden, wo ich politisch stehe.“

Greie, Jahrgang 1969, versteht sich als feministische Künstlerin. Mit der Band Laub und als AGF (für ihren früheren Namen Antye Greie-Fuchs) wurde sie in der elektronischen Szene bekannt. Greie ist ein Kind der Berliner Neunziger. Zusammen mit female:pressure, einem internationalen Netzwerk weiblicher DJs, kämpft sie für mehr Geschlechtergerechtigkeit in der elektronischen Musikkultur.

„Lichtschimmer“ Rojava

Die Musikerin beginnt sich für den Kampf der kurdischen Frauen zu interessieren. Sie liest Berichte darüber, wie Frauen im Kriegsgebiet verfolgt, vergewaltigt und versklavt werden. Und sie liest von jenen, die auf Seiten der Verteidigungseinheiten YPG und YPJ kämpfen. Greie hört nun auch zum ersten Mal den Namen einer Region, die sie nun im Gespräch einen „Lichtschimmer“ nennt: Rojava.

Rojava (gesprochen „Roschahwa“, „der Westen“ als Westen des kurdischen Siedlungsgebiets) nennen die Kurden drei an die Türkei grenzende Kantone im Norden Syriens (Efrîn, Cîzîre und Kobanê).

Das Modell Rojava gilt als „Revolution der Frauen“. Auch weil dort Schutzräume für Frauen mit Gewalterfahrungen entstanden sind

Im Westen bekannt ist vor allem die Stadt Kobanê, die eine Zeitlang mehrheitlich vom IS besetzt war und die die YPG – mit der Unterstützung anderer Truppen – Anfang 2015 zurückeroberte. Das gesamte nördliche Grenzgebiet wird heute überwiegend von kurdischen Kräften gehalten. Faktisch sind die drei Kantone Rojavas, in denen etwa 4,6 Millionen Menschen leben, kurdisches Autonomiegebiet.

Von der „Rojava Revolution“ wurde gesprochen, als kurdische Organisationen hier von Ende 2013 an nach eigenem Verständnis eine staatenlose Demokratie aufbauen wollten – multiethnisch, multilingual, selbstverwaltet.

Das Modell Rojava wird bis heute als „Revolution der Frauen“ bezeichnet. Nicht nur, weil Soldatinnen hier in Verteidigungsarmeen gegen den IS und andere Kriegsparteien kämpfen. Auch, weil in diesen drei Regionen für Frauen, die Gewalterfahrungen hinter sich hatten, Schutz- und Freiräume entstanden sind – Zentren und Dörfer für Kurdinnen, Jesidinnen, Araberinnen, Turkmeninnen und assyrische Christinnen.

Gesampelte O-Töne

„Wer hätte gedacht, dass die Revolution in einem arabischen Kriegsgebiet beginnt?“, fragt Antye Greie nun, als sie Ende April vor einer Webcam in einem Hotel in London sitzt. Sie hat zusammen mit female:pressure einige Monate darauf verwendet, die Kompilation „Music, Awareness & Solidarity with Rojava Revolution“ zu kuratieren. Zwölf international gefragte Produzentinnen – allesamt Frauen – haben dafür Tracks mit elektronischer Musik aufgenommen.

Elektronisches Knistern und Klackern, Beats und Bässe unterlegen darauf zumeist gesampelte O-Töne kurdischer Frauen, die von ihrer Situation im Krieg berichten. Einem der entstandenen Frauendörfer im Gebiet Rojava – „The Village Project“ – kommen die Erlöse zugute.

Nach den „Paris Attacks“, wie die zwischen Englisch und Deutsch switchende Greie die Anschläge nennt, nahm die Idee für den Sampler Konturen an. Die Bloggerin Dilar Dirik, die als Doktorandin in Cambridge zu der Situation der kurdischen Frauen forscht und im Netz über diese berichtet, sei wichtig gewesen auf dem Weg dorthin, sagt Greie.

„Mir fiel auf, dass über Syrien in den meisten Medien nur aus der männlichen Sicht berichtet wird. Sie aber schildert den Krieg aus weiblicher, aus feministischer Perspektive.“ Greie gelang es, im Netz einen direkten Kontakt zu den Frauen von Rojava herzustellen. Greie sprach mit Kämpferinnen, skypte mit Frauen im Kriegsgebiet; sie selbst, die seit einigen Jahren auf der finnischen Insel Hailuoto lebt, war bislang noch nicht dort.

Einen weiteren Schlüsselmoment gab es dann, als Greie einen Artikel auf der Internetplattform Open Democracy las. Eine dort interviewte Rojava-Aktivistin äußerte nur eine einzige Bitte: „Berichtet über uns! Die Welt weiß nichts von uns.“

Kompilation für Pussy Riot

Bereits 2013 hatte female:pressure, das aus 1.700 Frauen besteht, eine Kompilation zugunsten von Pussy Riot zusammengestellt – warum nicht nun für einen anderen Zweck? Mitte Dezember startete Greie einen Rundruf über den Verteiler des Netzwerks.

Ein Kern von zehn Musikerinnen und Interessierten bildete sich. Das erste Stück nahm Anfang des Jahres Sky Deep auf. Die US-amerikanische Produzentin ist privat mit einer kurdischen Kämpferin befreundet. In dem Song hört man, wie diese von der Situation der kurdischen Frauen berichtet – dazu erklingen Beats und elektronische Geräusche.

„Dieser Track hat uns alle gekickt“, sagt Greie. Es habe sie schon lange gereizt, Klangkunst und Aktivismus zu verbinden. Greie selbst nahm nun auch ein Stück auf: „Thoughts on Rojava“, in dem unter anderem Bloggerin Dirik von Gender Equality, Ökologie und „radikaler“ Demokratie spricht.

Various Artists: „Music, Awareness & Solidarity with Rojava Revolution“ (female:pressure)

Ganz unumstritten war das Engagement für Rojava bei female:pressure nicht. Nicht alle halten Rojava für ein basisdemokratisches Projekt: Die PKK-nahe Kurdenpartei PYD und ihre militärischen Arme – die YPG und YPJ – sind die bei weitem einflussreichsten Kräfte in Rojava und folgen streng der ideologischen Linie Abdullah Öcalans.

Nach Berichten von Human Rights Watch und Amnesty soll es 2014 und 2015 seitens der YPG/YPJ immer wieder zu willkürlicher Gewalt gegenüber politischen Gegnern und zu Kriegsverbrechen gekommen sein, auch der Einsatz von Kindersoldaten wurde genannt. Die Vorwürfe halten an, derzeit ist etwa von Zwangsrekrutierungen von Frauen die Rede. Nicht PKK-nahe Kurden seien geflohen, sagen Journalisten vor Ort.

Wichtige Debatte

„Wir haben diskutiert, was wir von der PKK oder der kurdischen Frage halten sollen. Einige wussten nicht, wie sie sich zur Gewalt, die von vielen verschiedenen Parteien ausgeht, positionieren sollen“, sagt Greie. „Ich verstehe das und finde die Debatte super wichtig.“ Nur wenige Musikerinnen habe die unklare politische Lage zum Rückzug veranlasst. Für sie selbst stehe die Solidarität mit den Frauen im Vordergrund.

Einige Verdienste um die Gleichberechtigung in der Region sind unbestritten: In Rojava strebt man derzeit zum Beispiel in den Kantonsverwaltungen einen Frauenanteil von 40 Prozent an. Führungspositionen sollen paritätisch und doppelt besetzt werden.

Es gibt eine eigene Nachrichtenagentur für Frauen (JINHA), in der Schule ein Fach namens „Jeneoloji“ („die Wissenschaft der Frau“) sowie Frauenzentren, Schulen, Sport- und Kulturangebote. Zuvor undenkbar für die Frauen in dieser Region.

Der Sampler wurde schließlich im Frühjahr pünktlich zum Frauentag fertig. Er bildet mit dieser Art Feldforschungs-Pop fast ein eigenes Genre. In einem Track etwa hört man die Musikerin, Lyrikerin und Aktivistin Viyan Peyman singen, das Sample ist aus einem tausendfach geklickten YouTube-Video, in dem sie das völlig zerstörte Kobanê besingt.

Peyman ist inzwischen im Kampf gegen den IS gefallen. Nicht nur in diesem Fall ist die Musik vom persisch-syrischen Kulturraum beeinflusst, auch in den Beats des Songs „Ishtar“ (Zoe McPherson aka Empty Taxi), in Geigensamples oder in den Rhythmen ist der musikalische Input aus dieser Region hörbar. Der Sound – mal rhythmisch, mal rauschend, mal technoid, dann dubbig– klingt äußerst up-to-date, die DJs und Produzentinnen zählen zu den derzeit Spannendsten ihrer Zunft.

Das Album wurde bislang zwar schon 35.000 Mal gehört, hat aber über die Bezahldownloads erst gut 800 Euro eingespielt. „Die Leute kaufen lieber Sneakers und trinken Kaffee“, sagt Greie spöttisch. Die zwölf Stücke zeigen jedenfalls, dass der Pop sich angesichts der weltpolitischen Situation zunehmend (re)politisiert. Und sie sind fast als Aufforderung zu verstehen, sich mit der Situation im syrischen Norden auseinanderzusetzen.

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