piwik no script img

Politischer Mord in Berlin-TiergartenTodesgrüße aus Moskau

Vor einem Jahr wird ein Georgier getötet. An diesem Mittwoch beginnt der Prozess. Spuren des Attentats führen zum russischen Geheimdienst.

Spurensuche am Berliner Tatort Foto: Christoph Soeder/dpa

BERLIN taz | Am 17. August 2019 um 22.23 Uhr landet ein Mann auf dem Pariser Flughafen Charles de Gaulle. Laut seinem im Juli 2019 ausgestellten russischen Reisepass heißt er Vadim Andreevich Sokolov. Er soll Bauingenieur sein, tätig für ein in St. Petersburg ansässiges Unternehmen. So steht es jedenfalls in seinem Antrag für das Visum, das er für seine Reise aus Moskau in den Schengenraum benötigt.

Der mutmaßliche Täter hat schon einmal getötet – in Russland. Die Fahndung wurde eingestellt

In den folgenden Tagen schaut er sich in der französischen Hauptstadt den Eiffelturm, die Basilika Sacré-Cœur und andere touristische Sehenswürdigkeiten an. Am 20. August fliegt er weiter nach Warschau. Auch hier unternimmt er eine Stadtführung. Dann reist der vermeintliche Tourist in die nächste europäische Metropole: nach Berlin. Hier erschießt er einen Menschen.

Zwei Schüsse in den Kopf

Was genau am 23. August 2019 in der Parkanlage „Kleiner Tiergarten“ passiert ist, ist gut rekonstruiert: Auf einem Fahrrad nähert sich „Sokolov“ um kurz vor 12 Uhr von hinten seinem Opfer. Als er den Mann erreicht hat, feuert er mit einer schallgedämpften 9-mm-Pistole des Typs „Glock 26“ seitlich auf den Oberkörper. Anschließend schießt er dem Mann zweimal in den Kopf. Das Opfer hat keine Chance. Er stirbt noch am Tatort.

Eigentlich hatte „Sokolov“ nach dem Mord nach Warschau zurückkehren wollen. In dem von ihm gebuchten Hotelzimmer dort wurde jedenfalls ein Aeroflot-Flugticket nach Moskau für den 25. August gefunden. Antreten kann der Attentäter diese Reise nicht. Bereits kurz nach der Tat wird er verhaftet. Jugendliche hatten beobachtet, wie er sein Fahrrad, eine Plastiktüte mit der Mordwaffe, Kleidung sowie eine Perücke in die Spree warf und sich mit einem E-Roller aus dem Staub machen wollte. Sie alarmierten die Polizei, die ihn Minuten später fassen konnte. Seitdem befindet er sich in Untersuchungshaft.

An diesem Mittwoch beginnt vor dem 2. Strafsenat des Berliner Kammergerichts der Prozess gegen „Sokolov“. Angeklagt ist er wegen des Verdachts des Mordes sowie des Verstoßes gegen das Waffengesetz. Das eigentlich Spannende sind jedoch die Hintergründe der Tat. Die führen nach Moskau.

Es gebe weder Hinweise auf eine wie auch immer geartete Verbindung zwischen dem Beschuldigten und dem Op­fer noch irgendwelche Bezüge der Tat zur organisierten Kriminalität oder zum islamistischen Terror, konstatiert die Bundesanwaltschaft. In ihrer Anklage geht sie vielmehr davon aus, dass der angeblich 50-Jährige einen „staatlichen Tötungsauftrag“ ausgeführt hat: Die Auftraggeber sollen „staatliche Stellen der Zentralregierung der Russischen Föderation“ gewesen sein. Ein höchst brisanter Vorwurf, den die russische Regierung vehement zurückweist.

Das Opfer: ein Staatsfeind Russlands

Allerdings gibt es einige gravierende Indizien, die genau in diese Richtung weisen. Da ist zunächst das Opfer: Tornike Kavtaradze war eine schillernde Figur. Fest steht, dass ihn die russische Regierung als gefährlichen Staatsfeind betrachtete. Ein dichtes Geflecht von Gerüchten und Spekulationen rankt sich um den Menschen, der eigentlich Selimchan Changoschwili hieß und wohl 1979 im georgischen Pankisi-Tal geboren wurde. Er gehörte der dort lebenden ethnischen Minderheit der Kisten an, die überwiegend muslimischen Glaubens und mit den Tschetschenen in Russland eng verwandt sind. Als ihn in Berlin die Schüsse trafen, befand sich Changoschwili gerade auf dem Weg in die Moschee.

Zu seiner Ermordung äußerte sich der russische Präsident Wladimir Putin erstmalig öffentlich am 10. Dezember 2019 auf einer gemeinsamen Pressekonferenz in Paris mit Bundeskanzlerin Angela Merkel sowie den Präsidenten Frankreichs und der Ukraine. „Dieser Mann wurde von uns gesucht“, antwortete Putin auf eine Frage. Das Mordopfer habe „aktiv an Kampfhandlungen kaukasischer Separatisten teilgenommen“ und sei ein „Bandit“ und „bewaffneter Verbrecher“ gewesen, ein „brutaler und blutrünstiger Mann“.

Der Täter warf kurz nach dem Mord die Waffe und anderes ins Wasser. Die Polizei birgt das Material Foto: Olaf Wagner/imago

Am 19. Dezember 2019 in Moskau wiederholte Putin seine Bewertung Changoschwilis, der „ein absolut blutrünstiger Mörder“ gewesen sei. Worte des Bedauerns über dessen Ableben kamen ihm nicht über die Lippen.

Unbestritten ist, dass Changoschwili im zweiten Tschetschenienkrieg gegen die russische Armee gekämpft hat. Er soll Feldkommandeur einer tschetschenischen Miliz gewesen sein. Doch es gibt unterschiedliche Angaben darüber, ob er den gemäßigten Rebellen zugerechnet werden konnte oder an der Seite islamistischer Fanatiker stand.

2005 flüchtete Changoschwili zurück nach Georgien. Dort ließ er sich einen neuen Pass ausstellen – auf den Namen Tornike Kavtaradze, den Familiennamen seiner Mutter. Während des kurzen Kaukasuskriegs 2008 mit Russland stellte er eine Einheit aus Freiwilligen aus dem Pankisi-Tal zusammen, die jedoch nicht zum Einsatz kam. Danach arbeitete er mutmaßlich für die Anti-Terror-Zentrale des georgischen Innenministeriums. Laut Spiegel soll Changoschwili jahrelang georgischen und auch ukrainischen Antiterrorbehörden als Informant und Vermittler gedient haben. Angeblich sollen auch US-Dienste von seinen Kontakten profitiert haben.

Verbürgt ist, dass Changoschwili Ende August 2012 an einer Sonder­operation der georgischen Sicherheitskräfte gegen islamistische Kämpfer beteiligt war, angeblich als Vermittler. Der genaue Ablauf des Geschehens ist unaufgeklärt, das Ergebnis unstrittig: Am Ende hatten elf Militante und drei Polizisten ihr Leben verloren.

Seit 2002 stand Changoschwili als mutmaßlicher Terrorist auf den Fahndungslisten der russischen Behörden. Bei seinen beiden Pressekonferenzen im Dezember 2019 warf Putin ihm konkret vor, er habe bei einer nicht näher spezifizierten Aktion im Kaukasus 98 Menschen getötet. Außerdem sei er „einer der Organisatoren der Sprengstoffanschläge in der Moskauer Metro“ gewesen. Belege für seine Beschuldigungen hat Putin bisher nicht vorgelegt.

Das erste bekannte Attentat auf Changoschwili wurde 2009 verübt, ein Giftanschlag. Nachdem ihn im Mai 2015 ein unbekannter Täter in der georgischen Hauptstadt Tiflis schwer verletzt hatte, setzte er sich mit seiner Familie in die Ukraine ab. Doch auch dort fühlte sich Changoschwili nicht sicher. Er floh weiter nach Deutschland. Im Januar 2017 beantragte er Asyl in der Bundesrepublik.

Im März 2017 lehnte das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (Bamf) seinen Asylantrag ab. Erst nach einer Klage erhielt Changoschwili ein vorläufiges Bleiberecht. Das Berliner Landeskriminalamt beobachtete ihn mehrere Monate lang als sogenannten Gefährder. Befürchtungen, er könne eine führende Rolle in der militanten Islamistenszene anstreben, bestätigten sich jedoch nicht.

Changoschwili lebte zuletzt mit seiner Frau, drei Töchtern und zwei Söhnen in Berlin. Er sei ein frommer Muslim, der aber kein Islamist und „schon gar kein Gefährder“ gewesen, sagt Ekkehard Maaß, der ihn gut kannte. Der Vorsitzende der Deutsch-Kaukasischen Gesellschaft hatte 2017 anlässlich des Asylverfahrens einen Brandbrief an das Bamf geschickt. Er halte dessen Bedrohung „für so relevant, dass ich dringlich darum bitte, ihn besonders zu schützen und ihn nicht dorthin zu schicken, wo er für den langen Arm Putins erreichbar ist“, schrieb Maaß. Doch Schutzmaßnahmen blieben aus.

Der Täter: falscher Name, falsche Berufsangabe

Nun würde die von der Bundesanwaltschaft konstatierte Gegnerschaft des Opfers zu Russland allein noch nicht ausreichen, um von einem russischen Staatsverbrechen auszugehen. Aber da ist ja auch noch der mutmaßliche Täter. Denn schnell stießen die deutschen Ermittlungsbehörden auf Ungereimtheiten in der Legende von „Vadim Andreevich Sokolov“.

Da ist zum einen die Bescheinigung seines vermeintlichen Arbeitgebers, die er seinem Visumsantrag beigefügt hatte. Aussteller war ein Unternehmen „ZAO RUST“ mit Sitz in St. Petersburg. Bescheinigt wurde ihm dort eine Anstellung als Bauingenieur seit November 2017 mit einem monatlichen Verdienst von 80.000 Rubeln, umgerechnet 1.100 Euro. Der Haken: Nach den im Handelsregister der Russischen Föderation hinterlegten Daten befindet sich die „ZAO RUST“ in „Reorganisation“. Im Jahr 2018 habe sie mit einem einzigen Mitarbeiter insgesamt Einnahmen von nur 80.000 Rubeln sowie einen Gewinn von 2.000 Rubeln erwirtschaftet. Das passt nicht zusammen.

Dafür fanden die Ermittler heraus, dass eine der „ZAO RUST“ zugeordnete Telefaxnummern zwei weiteren Unternehmen zugeordnet war: der „Oboronenergosbyt“ sowie der „Oboronenenergo“. Beide Firmen gehören laut Bundesanwaltschaft dem Verteidigungsministerium der Russischen Förderation.

Gemeinsame Recherchen des Spiegels, der Investigativplattformen Bellingcat und The Insider sowie des „Dossier Center“ offenbarten, dass „Vadim Andreevich Sokolov“ zwar über einen echten russischen Pass verfügte, seine Identität jedoch offenkundig gefälscht war. Aber wer war er dann? Die Bundesanwaltschaft ist inzwischen davon überzeugt, das herausgefunden zu haben.

Auf die Spur kam sie durch die Durchforstung alter russischer Interpol-Fahndungsmitteilungen. Dabei stieß sie auf einen im Juli 2015 von den russischen Behörden gelöschten internationalen Haftbefehl vom April 2014, in dem es um eine Person ging, die wegen eines im Vorjahr in Moskau verübten Mordes gesucht wurde. Der seinerzeit von einer Überwachungskamera festgehaltene Tathergang: Der Täter nähert sich seinem Opfer auf einem Fahrrad – und erschießt es durch Schüsse in den Oberkörper und in den Kopf. Der Name des gesuchten Mannes: Vadim Krasikov.

Die Ermittler glichen Fotos Krasikovs in den polizeilichen Datenbanken mit denen von „Sokolov“ ab. Und wurden fündig: Ein Gutachten des Landeskriminalamts Berlin kommt zu dem Ergebnis, dass es sich „mit hoher Wahrscheinlichkeit um ein und dieselbe Person handelt“.

„Sokolov“ muss logistische Unterstützung gehabt haben

Geboren worden sein soll Krasikov am 10. August 1965 in Kenestobe, einer kleinen Stadt in Kasachstan. Erstmals aktenkundig wurde er 2007, als sein Name im Zusammenhang mit einem Mord an einem Stadtrat in der russischen Teilrepublik Karelien genannt wurde. Falls er 2015 mit einer neuen Identität ausgestattet wurde, wovon die deutschen Behörden ausgehen, dann kann das nur mit Hilfe des russischen Sicherheitsapparats geschehen sein. „Sokolov“ selbst bestreitet, Krasikov zu sein. Die Tat im Kleinen Tiergarten will er auch nicht begangen haben. Ansonsten jedoch schweigt er eisern.

Deshalb dürfte es schwer werden, die vielen noch offenen Fragen aufzuklären. „Sokolov“ muss Helfershelfer gehabt haben. Wer spionierte Changoschwili in Berlin aus und informierte den Täter, wo er wann sein Opfer finde? Wer beschaffte die Waffe? Per Flugzeug aus Moskau mitbringen konnte er sie schließlich nicht. Ohne logistische Unterstützung hätte der mutmaßliche Auftragskiller seine Tat kaum ausführen können.

Antworten darauf dürften nicht unbedeutend sein für die zentrale Frage: Gelingt es zu beweisen, dass staatliche russische Stellen hinter dem Mord stecken? Der Mord an Changoschwili fügt sich in eine ganze Reihe von anderen Attentaten an Exil-Tschetschenen im Ausland ein. In allen Fällen war der Verdacht der gleiche, wer dahintersteckt. Aber den Nachweis zu führen erwies sich stets als schwer, wenn nicht unmöglich.

Das dürfte auch dieses Mal nicht viel anders werden. Noch ist jedenfalls ungeklärt, wer genau den Auftrag gegeben hat, Changoschwili „zu liquidieren“, wie es in der Anklageschrift heißt. Einiges weist auf den russischen Inlandsgeheimdienst FSB, anderes auf den Militärgeheimdienst GRU. Auch Ramsan Kadyrow, dem „Oberhaupt“ der Teilrepublik Tschetschenien, wäre es zuzutrauen, einen Auftragskiller in Marsch gesetzt zu haben.

Der Prozess gegen Changoschwilis mutmaßlichen Mörder ist bislang auf 25 Verhandlungstage festgesetzt.

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen