Politische Kultur der Schuldsuche: Wird alles böse enden?
Männer sind schuld. Frauen sind schuld. Der Kanzler ist schuld. In dieser Weltlage braucht es keine Schuldigen, sondern eine Veränderung des Denkens.
I ch liste mal in aller Ruhe auf, was demnächst passieren kann: Die AfD wird im Herbst in einem oder mehr kleineren Bundesländern stärkste Partei. Nicht gut, aber schlimmer: Die Wirtschafts- und Klimapolitikerin Ursula von der Leyen bleibt zwar nach der Europawahl EU-Präsidentin, aber um den Preis, dass die europäische Wirtschaftsoffensive (Green Deal) zurückentwickelt und in der Folge auch die deutsche Wirtschaft abgehängt wird. Marine Le Pen wird bei dieser EU-Wahl stärkste Kraft in Frankreich. Noch schlimmer: Putin marschiert auf Kyjiw und ins nächste und dann übernächste Land, aber – Achtung, Ironie – niemals nach Deutschland, als Dank dafür, dass Olaf Scholz den Ukrainern keine Taurus liefert.
Dann wird auch noch Donald Trump wieder US-Präsident, und der Westen als geopolitische und kulturelle Allianz zerbröckelt. Und China, Israel, religiösen Irrsinn und regionale oder globale Terrorunternehmen habe ich noch gar nicht erwähnt. In der Konsequenz wird der Versuch aufgegeben, die Eskalation des Weltklimas und damit auch Fluchtzwänge und Kriege zu begrenzen, Freiheit und Lebensqualität zu erhalten, Aufklärung und Emanzipation weiterzuentwickeln. Also, dafür haben wir nämlich jetzt echt keine Kapazitäten!
Das alles muss und soll nicht geschehen, aber es nützt nichts zu knurren: „Unsinn, das passiert doch nicht“, oder auch: „Ich wusste immer, dass es böse endet“. Beides gehört zum wohlfeilen business as usual, das es zu überwinden gilt. Die Aufgabe lautet jetzt: Handlungsfähigkeit herstellen, damit es eben nicht böse endet.
Sicher erleben wir gerade in Deutschland die Verhärtung des gesellschaftlichen Klimas, auch unakzeptable und gesetzeswidrige Eskalationen. Und vor allem sehen wir die negativen Auswirkungen einer Mediengesellschaft, in der selbst Grottenolme wissen, wie man in eigener Sache auf den Putz haut, um in die Abendnachrichten, die Kommentarspalten und die anderen Aufregungskanäle zu kommen.
Dieser Text stammt aus der wochentaz. Unserer Wochenzeitung von links! In der wochentaz geht es jede Woche um die Welt, wie sie ist – und wie sie sein könnte. Eine linke Wochenzeitung mit Stimme, Haltung und dem besonderen taz-Blick auf die Welt. Jeden Samstag neu am Kiosk und natürlich im Abo.
Männer sind schuld, Frauen und der Kanzler
Das geht auf die individuelle und kollektive Psyche. Und weil uns das alles ein bisserl über den Kopf wächst, versuchen wir die Komplexität zu reduzieren und sagen dann, je nach individueller Analyse, Präferenz oder Gehirnwäsche: Die Grünen sind schuld. Die AfD ist schuld. Die FDP ist schuld. Die „Rechten“ sind schuld. Die „Linken“ sind schuld. Die Youknowwho sind schuld. Männer sind schuld. Frauen sind schuld. Der Kanzler ist schuld? Der Vizekanzler ist schuld.
Und damit sind wir bei der entscheidenden Differenzierung: Die Wut auf Robert Habeck speist sich daraus, dass er dafür steht, dass etwas Neues beginnen muss – und es unklar ist, ob das funktionieren wird. Der Ärger über Olaf Scholz folgt daraus, dass das Alte nicht mehr funktioniert, dessen Wirkung er unverdrossen und fälschlich verspricht. Je länger er regiert, desto sicherer ist dieser Befund. Insofern bringt auch die gern beschworene schnelle Neuwahl überhaupt nichts, weil ein CDU-Kanzler nur eine rhetorische Variante des Alten im Angebot hat, die auch nicht funktionieren kann, weil es die dazugehörende Welt nicht mehr gibt, genau wie ihre schöne All-inclusive-Dienstleistungspolitik.
Damit das Land und die EU nicht verloren gehen, braucht es keinen Schuldigen und keine neue Koalition, sondern als Grundlage für alles eine Denk- und Kulturänderung. Das klingt banal, aber das Neue besteht darin, den zentralen Notwendigkeiten nicht mehr auszuweichen, sondern sie – Wirtschaft, Nullemissionen, Verteidigung, Haushalt – angehen zu können. Auch wenn sich daraus neue Probleme und Unsicherheiten ergeben. Jetzt wird man sagen: Wer soll denn das wählen? Na, ich – und Sie!
Wir müssen uns die Zukunft zumuten. Sonst haben wir keine.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Nan Goldin in Neuer Nationalgalerie
Claudia Roth entsetzt über Proteste
Politikwissenschaftlerin über Ukraine
„Land gegen Frieden funktioniert nicht“
Juso-Chef über Bundestagswahlkampf
„Das ist unsere Bedingung“
Verein „Hand in Hand für unser Land“
Wenig Menschen und Traktoren bei Rechtspopulisten-Demo
Internationaler Strafgerichtshof
Ein Haftbefehl und seine Folgen
taz-Recherche zu Gewalt gegen Frauen
Weil sie weiblich sind