Politische Gefangene in Belarus: Suizidversuch im Gericht
Der unschuldig verurteilte Aktivist Stepan Latypow wollte sich im Gericht das Leben nehmen. Janka Belarus über Minsk in stürmischen Zeiten. Folge 90.
A m 10. Juni wurde der Prozess gegen Stepan Latypow wieder aufgenommen. Den journalistischen Berichterstatter*innen wurde das Fotografieren im Gerichtsgebäude untersagt. Der politische Gefangene saß in einem gläsernen Käfig und war beidhändig mit Handschellen an zwei Begleiter mit kugelsicheren Westen gekettet. Um die 15 Menschen wurden in den Gerichtssaal gelassen, die Mehrheit derer, die zu Stepans Unterstützung gekommen waren, wurde wegen der „ungünstigen epidemiologischen Situation“ nicht zugelassen.
Bei der vorherigen Anhörung am 1. Juni hatte Stepan Latypow einen öffentlichen Suizidversuch unternommen. Er hatte sich auf die Bank in dem Käfig gestellt (in dem die Gefangenen vor Gericht sitzen müssen, Anm. d. Redaktion), um für die Begleiter schwerer erreichbar zu sein, und sich einen Stift in den Hals gestochen. Danach war er gefallen und hatte noch begonnen, sich die Arme aufzuschneiden. Der Käfig konnte nicht schnell geöffnet werden, weil die Begleiter keinen Schlüssel hatten. Den hatte jemand, der draußen vor der Tür des Gerichtssaales wartete. Als der Käfig schließlich geöffnet wurde, verlor Stepan das Bewusstsein. Er wurde in ein Krankenhaus gebraucht, kam dann aber gleich nach der Operation wieder in Untersuchungshaft.
Stepan Latypow ist der 40-jährige Mann, der sich schützend vor die Wandbilder am „Platz der Veränderungen“ gestellt hatte. Er wurde festgenommen und noch in seinem eigenen Hof zusammengeschlagen, einzig und allein aus dem Grund, weil er die maskierten Unbekannten höflich gebeten hatte, sich auszuweisen und ihnen Auszüge aus dem Gesetz über die Organe des Innenministeriums vorgelesen hatte.
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Er wurde zu Symbol der Ruhe, der Zuversicht und des Stolzes jener Tage. Stepan ist von Beruf Arborist – ein Arzt für Bäume. Er wurde wegen der Vorbereitung von Massenunruhen angeklagt, bei ihm zu Hause hatte man handelsübliche Düngemittel aus einem Baumarkt gefunden. Acht Monate saß er im Gefängnis, wo er gefoltert wurde, damit er die absurden Beschuldigungen zugeben sollte, und als er sich weigerte, drohten sie ihm, auch gegen seine Verwandten und Nachbarn Strafverfahren einzuleiten.
ist 45 Jahre alt und lebt und arbeitet in Minsk. Das Lebensmotto: Ich mag es zu beobachten, zuzuhören, zu fühlen, zu berühren und zu riechen. Über Themen schreiben, die provozieren. Wegen der aktuellen Situation erscheinen Belarus' Beiträge unter Pseudonym.
Stepans Vater erzählte, dass sein Sohn seit April in eine Zelle zusammen mit psychisch Kranken gesperrt worden war. Man kann ihm absolut nichts vorwerfen. Aber sie behandeln ihn wie ein wildes und gefährliches Tier. Wie sehr muss man einen Menschen schikaniert haben, dass er den Tod dem Gefängnis in Belarus vorzieht….
Und immer noch sitzen minderjährige politische Gefangene hinter Gittern, Kinder, die man dort schlägt und foltert, weil sie es gewagt haben, ein anderes Leben zu wollen. Weil sie nicht einverstanden waren mit den Wahlen 2020. Und weil sie denjenigen, die sie erniedrigen und misshandeln, gesagt haben, dass man anders leben kann.
Die junge Frau, die bei Latypows erster Gerichtsverhandlung dabei war, erzählt: „Vor dem Hintergrund von Machtlosigkeit und eigener Ohnmacht, allgemeiner Verwirrung, Gewalt und Bedrohung ist der von Stepan gemachte Schritt nicht nur ein Schritt der Verzweiflung, sondern auch einer des freien Willens.“
Die Gerichtsverhandlung am 10. Juni dauerte keine Stunde. Das Gericht schickte Stepan Latypow zu einer psychiatrischen Untersuchung. Ich möchte mir nicht vorstellen, dass dies eine Wiederbelebung der Strafpsychiatrie ist, bei der man die Menschen zwingt, Medikamente zu nehmen und sie in den Zustand von „Gemüse“ versetzt. (ein umgangssprachlicher gebrauchter Ausdruck für den neurospychologischen Ausdruck „vegetativer Zustand“, bei dem noch die physiologischen Grundfunktionen eines Menschen erhalten sind, aber alle Anzeichen subjektiven Bewusstseins fehlen, kein Sprachverständnis und keine absichtlichen Handlungen mehr erkennbar sind; Anm. d. Redaktion)
Latypow selbst hat gesagt, dass alle seine Handlungen mit dem Verhalten der Milizionäre zusammenhingen, und nicht mit seiner eigenen „Unzulänglichkeit“.
Stepan Latypow drohen 10 Jahre Freiheitsentzug. Er selbst bekennt sich nach keinem der Artikel, nach denen er angeklagt ist, für schuldig.
Aus dem Russischen Gaby Coldewey
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