Politische Bildung in Bayern: 15 Minütchen fürs Grundgesetz
Bayern plant eine „Verfassungsviertelstunde“ an Schulen. Lehrkräfte und Schüler:innen fürchten ein „neues Morgengebet“ – oder noch mehr Unterricht.
Doch inzwischen scheint zumindest ein gewisses Problembewusstsein auch in der bayerischen Staatsregierung angekommen zu sein. Vielleicht war es die Flugblattaffäre von Wirtschaftsminister Hubert Aiwanger, die den übrigen Teilnehmern der Koalitionsgespräche noch einmal vor Augen geführt hat, auf welche Irrwege sich selbst 17-jährige Gymnasiasten begeben können. Vielleicht hat sie aber auch das Ergebnis der U18-Landtagswahl aufgeschreckt.
60.000 Jugendliche unter 18 Jahren hatten kurz vor der bayerischen Landtagswahl Anfang Oktober ihre Stimmen abgegeben. Zur Wahl standen dieselben Parteien wie bei der tatsächlichen Landtagswahl – mit dem einzigen Unterschied, dass die Stimmen der Minderjährigen natürlich nicht zählten.
Das Ergebnis: Anders als bei vergleichbaren Erhebungen in der Vergangenheit legten die Rechtsextremen jetzt auch bei den Jungen massiv zu. Mit 14,9 Prozent der Stimmen schnitt die AfD hier sogar noch 0,2 Prozentpunkte besser ab als bei den erwachsenen Wählerinnen und Wählern. Mit dem Nachwuchs, so dürfte den Regierenden nun dämmern, ist freilich kein Staat zu machen, wenn er über diesen Staat und seine Werte überhaupt nichts weiß, wenn er Demokratie nie vermittelt bekommt, nie eingeübt hat.
Wehrhafte bayrische Jugend
Dabei ist die bundesrepublikanische Demokratie ja gewissermaßen ein geistiges Kind des Freistaats. Mitten in Bayern, auf der Insel Herrenchiemsee, wurden vor 75 Jahren die Grundzüge des Grundgesetzes ausgearbeitet.
Im vergangenen Sommer hat man das Jubiläum bei einem Festakt gefeiert. Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier war da, Landtagspräsidentin Ilse Aigner auch, Ministerpräsident Markus Söder sowieso. „Eine Demokratie“, forderte Steinmeier, „muss wehrhaft sein gegen ihre Feinde.“ Um die bayerische Jugend entsprechend wehrhaft zu machen, haben sich Söder und seine Koalitionäre nun ihrerseits etwas einfallen lassen: die Verfassungsviertelstunde.
Als „wöchentliches Format“ stellen sich CSU und Freie Wähler diese laut Koalitionsvertrag vor, in dem „anhand von praktischen Beispielen über die Bayerische Verfassung und das Grundgesetz sowie die dort verankerten Grundsätze diskutiert wird“. Ein konkretes Konzept gibt es bislang allerdings noch nicht – ebenso wenig ein Vorbild in anderen Bundesländern. Außerhalb Bayerns setzen die Ministerien vor allem auf früheren Politikunterricht, auf eigene Schulbudgets für politische Bildung oder fächerübergreifende Projekte, um die Kinder und Jugendlichen zu Demokraten zu erziehen.
Es obliegt nun der neuen bayerischen Kultusministerin Anna Stolz (Freie Wähler), das Konzept zur Verfassungsviertelstunde auszuarbeiten. Und sie hat bereits angekündigt, sich damit bis zum Frühsommer Zeit lassen zu wollen. Im Schuljahr 2024/25 soll es sie dann geben, die Verfassungsviertelstunde. Alles weitere: vage. Nur dass die Viertelstunde keinesfalls auf Kosten des übrigen Unterrichts gehen solle, machte Stolz gleich mal klar. „Harmonisch und flexibel“ solle sie eingebettet werden, verlautete es aus ihrem Hause.
Demokratieunterricht frontal
„Ist das jetzt das neue Morgengebet?“, war der erste Gedanke von Gabriele Triebel, als sie von der neuen Idee gehört hat. Triebel ist selbst Lehrerin und sitzt seit 2018 für die Grünen im Landtag, ist deren bildungspolitische Sprecherin. Grundsätzlich sei sie ja schon „auf der richtigen Spur“, gesteht Triebel der Staatsregierung zu. „Wir brauchen mehr Demokratiebildung, mehr Formate.“ Nur: Das demokratische Viertelstündchen jetzt als den großen Wurf zu deklarieren, halte sie schon für etwas übertrieben.
Aus Triebels Sicht kommt vor allem das Einüben demokratischen Handelns zu kurz. Aber: „Im Frontalunterricht schaffen wir das nicht.“ Deshalb fordert die Politikerin beispielsweise die Einführung von Schulparlamenten. Oder auch eine Verstärkung verschiedener Formen von Projektunterricht, in dem die Schüler zusammenarbeiten müssen. Solche Unterrichtsformen, die schon per se dazu führen, dass Schüler mehr Demokratie leben, hätten zudem den Vorteil, dass nicht zu viel von der einzelnen Lehrerin und deren Engagement abhänge.
Sehr skeptisch und wenig aufgeschlossen gegenüber Veränderungen an bayerischen Schulen zeigten sich dagegen diverse Lehrerverbände in ihren ersten Reaktionen. Ulrich Babl etwa, der Vorsitzende des Bayerischen Realschullehrerverbandes, befürchtete, die Einführung einer Verfassungsviertelstunde könnte zu einem „unüberwindbaren Stundenplanchaos und zu Überforderung“ führen. Und auch Stefan Düll, der Präsident des Deutschen Lehrerverbandes, gab sich wenig begeistert. Problematisch sei es, „dass eine gesellschaftliche und politische Aufgabe wieder einmal hauptsächlich von den Schulen gelöst werden soll“.
Schule und Gesellschaft als Gegensatzpaar? Simone Fleischmann, die Chefin des Bayerischen Lehrer- und Lehrerinnenverbandes, will sich der Argumentation ihrer Kollegen nicht anschließen. Die Menschen machten sich schließlich Sorgen um die Entwicklung in der Gesellschaft. Wo, wenn nicht in der Schule, solle man da ansetzen? „Wir wollen ja auch, dass was in der Schule passiert. Wir müssen doch endlich mal Veränderungen zulassen.“
Aber passiert mit einer Verfassungsviertelstunde tatsächlich etwas? Wird daraus mehr als eine Pflichtübung fürs gute Gewissen? Natürlich müsse das Format diskutiert werden, sagt Fleischmann. Es dürfe nicht zu einem inhaltsfreien Ritual werden. „Wir brauchen keine starren 15 Minuten.“ Mehrfach spricht Fleischmann von der Notwendigkeit einer „White-Paper-Diskussion“: „Da stehen jetzt halt mal 15 Minuten auf dem Papier. Jetzt gilt es, das klug umzusetzen. Wie das dann genau ausgestaltet wird, wird sich zeigen.“
Schule neu denken
Letztendlich müsse man viel grundsätzlicher an das Thema rangehen. „Was soll dieses System Schule leisten? Was ist denn eigentlich der Auftrag von Schule?“ Wenn man diese Frage beantwortet hat, werde man auch der politischen Bildung einen angemessenen Raum in der Schule geben können. Sie selbst beispielsweise habe während ihrer aktiven Zeit als Lehrerin mit ihren Schülern jeden Tag erst mal eine halbe Stunde Zeitung gelesen. Ohne dass dies auf Kosten des Satzes des Pythagoras gegangen wäre. Das sei alles möglich.
Was Fleischmann vorschlägt, ist nichts anderes, als Schule ganz neu zu denken. Aber ob das bayerische Bildungssystem so viel Reformwillen aufbringt? Die Lehrervertreterin gibt sich optimistisch. Schließlich habe man gute Voraussetzungen: eine neue Ministerin, einen neuen Koalitionsvertrag; und sie habe den Eindruck, dass Stolz neue Dinge ernsthaft angehe. Ein bisschen Vorschusslorbeeren müssen offenbar sein.
Ein Anruf bei Heinrich Ritter im unterfränkischen Haßfurt. Der 19-Jährige geht ans dortige Regiomontanus-Gymnasium und spricht als Landesschülersprecher für rund 1,7 Millionen bayerische Schüler. In Sachen demokratischer Bildung sieht auch er dringenden Nachholbedarf. Von der Sinnhaftigkeit einer Verfassungsviertelstunde ist er nicht überzeugt: „Die jetzt irgendwo noch in den aktuellen Stundenplan reinzuquetschen“, hält er für schwierig. „Oder soll es noch mehr Unterricht für Lehrer und Schüler geben?“
Sinnvoll wäre es, sagt Ritter, nicht nur jede Woche über die Verfassung zu reden, sondern zu überlegen, wie man generell an Schulen Werte noch besser vermitteln und auch über Tagespolitik sprechen könne. Ein wichtiger Punkt ist dabei in Ritters Augen die Medienkompetenz der Schülerinnen und Schüler. Diese seien so oft mit Fake News konfrontiert, sei es nun über Instagram oder TikTok. Ritter würde sich ein in der Schule verankertes Korrektiv wünschen, eine Hilfestellung, um Falschnachrichten mithilfe faktenbasierten Wissens als solche zu entlarven. „Damit wir uns da nicht selbst was aufgrund der oft zweifelhaften Berichte auf Social-Media-Kanälen zusammenreimen müssen.“
Vor allem ist dem Landesschülersprecher wichtig, dass die Schülerinnen und Schüler in die Diskussion über die Ausgestaltung dieser Viertelstunde mit eingebunden werden. „Das Kultusministerium muss sich zusammen mit uns, den Eltern und den Lehrerverbänden an einen Tisch setzen. Schule wird nicht zentral vom Kultusministerium gemacht.“
In einem ist der Schüler mit den früheren Lehrerinnen Triebel und Fleischmann völlig einer Meinung: Zunächst müsse man den Lehrplan entschlacken. Der sei aktuell definitiv zu voll. Sei das Wissenspensum, das die Lehrkräfte durchzupauken hätten, erst mal reduziert, gebe es auch mehr Freiraum für neue partizipative Unterrichtsformate, für politische Bildung. Vielleicht ja sogar mehr als eine Viertelstunde.
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