Politikwissenschaftler über Ukraine: „Es gibt keinen Konsens“
Um einen Waffenstillstand in der Ukraine zu sichern, braucht es unabhängige Beobachter, findet Politikwissenschaftler Vitalij Sisow.
taz: Herr Sisow, ist der neue Waffenstillstand ein erster Schritt zum Frieden?
Vitalij Sisoff: Ich würde sagen, im besten Fall ein erstes kleines Schrittchen. Wir hatten im letzten Jahr doch schon 20 Waffenstillstände. Und die wurden nicht eingehalten, wie wir wissen. Das liegt weniger an den Waffenstillstandsvereinbarungen selbst als vielmehr an der aktuellen politischen Lage. Kurzum, ich glaube nicht, dass er lange hält.
Krieg
Seit Februar 2014 kämpfen ukrainische Regierungstruppen in der Ostukraine gegen von Russland unterstützte Aufständische. Diese haben in den Regionen Donezk und Luhansk sogenannte Volksrepubliken ausgerufen. UN-Schätzungen zufolge wurden seit dem Beginn des Konflikts mehr als 13.000 Menschen getötet.
Friedensplan
Im Jahr 2015 einigten sich die Konfliktparteien unter deutsch-französischer Vermittlung auf das Minsk-II-Abkommen. Dieses sieht unter anderem nach einer Waffenruhe den Abzug schwerer Waffen aus einer Pufferzone rund um die Frontlinie sowie Wahlen in Donezk und Luhansk vor. Danach sollen beide Regionen einen autonomen Sonderstatus erhalten.
Waffenruhe
Die jüngsten Vereinbarungen enthalten einige Zusatzbestimmungen. Dazu gehört ein Verbot des Einsatzes von Drohnen. Schwere Waffen dürfen nicht mehr in Ortschaften positioniert werden. In der Vergangenheit hat es rund zwei Dutzend Anläufe für eine vollständige Waffenruhe gegeben. Alle scheiterten nach kurzer Zeit. (bo)
Was ist dann an diesem Waffenstillstand besser?
Das Verbot von militärischer Aufklärung ist eine gute Sache. Wir wissen, dass in der Vergangenheit gerade Aufklärungstrupps immer wieder Schießereien provoziert hatten.
Erstmals soll jede Seite sich selbst kontrollieren. Wer das Abkommen verletzt, muss mit Disziplinarmaßnahmen rechnen.
Das ist ja gerade die Schwierigkeit. Die Seiten müssen selbst kontrollieren, ob einer der ihren den Waffenstillstand gebrochen hat. Und man wird doch nicht einen aus der eigenen Truppe beschuldigen. Ohne unabhängige Beobachter ist es schwer herauszufinden, wer wirklich zuerst geschossen hat.
Und wie sieht die Gesellschaft das Abkommen?
Es gibt in der Frage von Krieg und Frieden keinen Konsens. Trotzdem ist ein Waffenstillstand nicht so strittig wie etwa die Frage einer Amnestie, eines Sonderstatus etc. Insgesamt gibt es also große Unterstützung für diesen Waffenstillstand, besonders im Donbass. Und zwar gerade unter Selenski-Wählern. Die sorgen sich vor allem um die Wirtschaft und den Frieden im Osten des Landes.
ist Politikwissenschaftler am Donezker Institute of Information.
Trotzdem ist mit Protesten gegen den Waffenstillstand zu rechnen.
Ja, und die Unterstützer dieser Proteste sehe ich vor allem im Umfeld des Vorgängerpräsidenten. Sicherlich wollen da auch einige die Aufmerksamkeit auf sich ziehen, um strafrechtlicher Verfolgung zu entgehen. Oder auch, weil sie mit dem Thema eines, wie sie es nennen, „Verrats“ hoffen, wieder an die Macht zu kommen.
Wie werden die Machthaber auf diese Proteste reagieren?
Sie werden sie mit Sicherheit nicht ignorieren. Denn was ein Konfrontationskurs mit einem innenpolitischen Gegner bringt, haben wir ja unter Janukowitsch gesehen. Sie werden ihre Vision von Waffenstillständen mit weicheren Methoden umsetzen. Außerdem spielen Proteste den Machthabern in die Hände. Die können so zu ihren internationalen Verhandlungspartnern sagen: Wir wollen ja gerne mehr, aber wir können leider Proteste im Land nicht ignorieren.
Was will Selenski?
Ich glaube, Selenski will wirklich, dass nicht mehr geschossen wird. Ihm gehen die ganzen Nachrichten von Toten und Verletzten ans Herz.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
Starten Sie jetzt eine spannende Diskussion!