Poitikerin Sera Kadıgil über Freiheit: „Wir warten seit 22 Jahren“
Sera Kadıgil ist Mitglied der türkischen Arbeiterpartei TİP. Sie spricht über Pressefreiheit, Wahlmanipulation und ihren Glauben an die Opposition.
taz Panter Stiftung: Frau Kadıgil, wie ist die Stimmung am Internationalen Tag der Pressefreiheit in der Türkei?
Sera Kadıgil: Seit 22 Jahren ist Recep Tayyip Erdoğan an der Macht und hat seither systematisch die Presse unter seine Kontrolle gebracht. Er wusste, dass es möglich ist, Menschen zu kontrollieren. Der ganze Staatsapparat steht unter seiner Kontrolle. Mit Steuergeldern hat er eine Institution namens „Kommunikationsdirektorat“ installiert, die allein im Februar fast 180 Millionen türkischen Lira (circa 8,4 Millionen Euro) Ausgaben hatte. Hier wird mit meinen Steuergeldern schwarze Propaganda betrieben. (Mittel aus der psychologischen Kriegsführung, entwickelt im Zweiten Weltkrieg, wobei durch die Verbreitung von Fake News der ideologische Gegner verunsichert wird; d. Red.).
Journalist*innen hingegen, die versuchen, die Öffentlichkeit mit Fakten zu informieren, sitzen im Gefängnis. Die wenigen noch verbliebenen unabhängig berichtenden TV- und Printmedien werden mit Geldstrafen überzogen und auf diese Weise zum Schweigen gebracht. Eine Oppositionspolitikerin wie ich kommt in 95 Prozent der türkischen Presse überhaupt nicht vor. Menschen, die sich nur über diese Kanäle informieren, wissen überhaupt nicht, dass es jemanden wie mich gibt.
Wie ist so was möglich? Können Sie das genauer erklären?
Sie ist Jahrgang 1984, Juristin und Anwältin. 2018 zog sie als Abgeordnete ins Parlament. Scharfe Kritikerin der Regierung. 2022 begleitete sie die Rede des Vizepräsidenten Fuat Oktay mit türkischen Popsongs wie: „Lügen“ und „Palavra, Palavra“
Die Medienaufsicht RTÜK belegt alle Sender, die den Mut haben, mich einzuladen, mit Sendeverbot und Geldstrafe. Beispielsweise habe ich bei einem Auftritt auf Fox TV Erdoğans Behauptung, die Wirtschaft sei „in keinem schlechten Zustand“, mit den Worten kommentiert, er sei offenbar Präsident auf dem Mars, woraufhin der Sender eine Geldstrafe von 5 Millionen Lira erhielt. Beim Sender Tele 1 forderte ich die Schließung der Imam-Hatip-Schulen sowie der Religionsbehörde Diyanet, es folgte ein dreitägiges Sendeverbot. Die Zensur betrifft natürlich nicht nur mich, sondern alle Menschen mit einer oppositionellen Meinung. Die Pressfreiheit in der Türkei ist in einem sehr schlechten Zustand. Was das angeht, leben wir derzeit in einem der beschämendsten Länder der Welt.
Zur Meinungsfreiheit gehört auch das Recht, sich frei im öffentlichen Raum zu bewegen. Was können Sie über die systematische Einschränkung des Versammlungs- und Demonstrationsrechts sagen?
Medien und Justiz sind demokratische Mittel, um auf Missstände hinzuweisen. Demonstrationen ein grundlegendes Bürgerrecht, das Menschen ermöglicht, ihren Unmut zum Ausdruck zu bringen. Unter Erdoğan sind diese Möglichkeiten zur Regierungskritik zusammengebrochen. Er will, dass geschieht, was er befiehlt, und dass niemand sich dagegen wehren kann. Deshalb traktiert er bereits seit den Gezi-Protesten vor zehn Jahren das Recht auf Versammlungsfreiheit. Frauen können am 8. März nicht auf der İstiklalstraße demonstrieren; Pride-Paraden werden mit härtester Gewalt aufgelöst, als sei es keine weltweit stattfinde LGBTIQ*-Veranstaltung, sondern eine militärische Besatzungsmacht, die die Türkei einnehmen will; Arbeiter*innen, die gegen ihre Entlassung protestieren, werden festgenommen. Die Regierung hat das Land zugrunde gerichtet, und um das zu verschleiern, nutzt sie jedes ihr zur Verfügung stehende Gewaltmittel.
Am 14. Mai finden die Präsidentschaftswahlen statt. Kritiker*innen befürchten, dass Erdoğan im Falle einer Niederlage das Ergebnis nicht akzeptieren wird. Wie könnte man unter den gegebenen Umständen dagegen vorgehen?
Eine berechtigte Sorge. Wir haben das bereits 2019 bei den Bürgermeisterwahlen in Istanbul erlebt. Ich war persönlich bei der Auszählung der Wahlstimmen dabei. Wir haben mit einem Vorsprung von 13.000 Stimmen die Wahl gewonnen. Am nächsten Morgen hingen überall Fotos von Recep Tayyip Erdoğan mit dem Slogan: „Die Stadtverwaltung der Herzen hat gesiegt.“ Sie haben versucht, uns diese Wahl zu stehlen. Doch die Bevölkerung hat es nicht zugelassen. Nach Protesten gab es eine Wiederwahl und wir erzielten sogar einen noch deutlicheren Wahlsieg. Diesmal musste die Regierung das Ergebnis akzeptieren. Wenn jemand versucht, mit aller Gewalt und entgegen den Wahlergebnissen die Macht an sich zu reißen, habe ich als Bürgerin das Recht, Widerstand zu leisten.
Und genau von diesem Recht werden wir im Zweifel auch Gebrauch machen. Ich habe Vertrauen in mich, meine Partei und auch alle anderen Oppositionsparteien und glaube an den Mut der Bürger*innen, die in diesem Land leben. Es hat uns alle so viel Mühe gekostet, dieses Land aufzubauen, da werden wir es nicht kampflos aufgeben. Die Regierung hat es nicht geschafft, die Bevölkerung mit Zensur und Festnahmen einzuschüchtern. Alle warten händereibend auf diese Wahl. Wenn die Regierung versucht, mit unrechtmäßigen Mitteln die Wahl an sich zu reißen, wird sich ein Großteil der Bevölkerung dem widersetzen. Davon bin ich überzeugt. Unsere Geduld ist am Ende.
Wer sich die Hände reibt, hat Hoffnung. Sie glauben also, dass Erdoğan die Wahl verlieren könnte?
Ja. Bei den Präsidentschaftswahlen im Jahr 2018 hatte der CHP-Kandidat Muharrem İnce gute Chancen gegen ihn, doch es war klar, dass es ein Kopf-an-Kopf-Rennen werden würde. In jedem Fall war die AKP in den Umfragen nicht so schwach wie heute. Ich war damals vor Ort und werde es auch diesmal sein. Erdoğans Zeit ist vorbei. Nicht bei einer einzigen Umfrage liegt er vorn. Immer mehr Menschen, die ihn bereits fünfmal gewählt haben, wünschen sich nun, sie hätten sich lieber die Hand gebrochen. Die wirtschaftliche Lage ist so schlimm, dass sich die Menschen nicht einmal mehr ein Kilo Zwiebeln leisten können.
Selahattin Demirtaş, der inhaftierte ehemalige Vorsitzende der HDP, hat die Volksallianz, der neben AKP und MHP auch die islamistische YRP und die Hüda Par, ein ideologischer Ableger der Hisbollah, angehören, als „Talibanbündnis“ bezeichnet und davor gewarnt, dass es vielleicht „die letzte Wahl sein könnte, bei der Frauen wählen dürfen“. Was sagen Sie dazu?
Ich stimme dem geschätzten Herrn Demirtaş in diesem Punkt völlig zu. Das versuche ich vor allem Frauen, die hinter der AKP oder der MHP stehen, zu erklären. Dies könnte für alle progressiven Gesellschaftsgruppen die letzte Wahl sein, aber vor allem für Frauen ist es eine kritische Zeit. Glauben Sie mir, dass weder die iranischen noch die afghanischen Frauen damit gerechnet hätten, sich in ihrer aktuellen Situation wiederzufinden. Früher hörte man Menschen sagen: „Ach komm, so etwas ist in der Türkei unmöglich.“ Aber diese Zeiten sind vorbei. Es gibt Leute, die fordern, dass der Anspruch auf Alimente aufgehoben und Scheidungen gänzlich verboten werden sollen. Dieser Tage müssen vor allem Frauen auf der Hut sein.
Die Saadet-Partei, die den Austritt aus der Istanbul-Konvention unterstützt hat, ist Teil des oppositionellen Bündnisses der Nation (Millet İttifakı). Wie wird sich das Bündnis für Arbeit und Freiheit (Emek ve Özgürlük İttifakı), dem auch Sie angehören, bei einem Einzug ins Parlament positionieren?
Die CHP hat ein rechtes Bündnis gegründet. In diesem sogenannten Bündnis der Nation steht ganz links die CHP, die behauptet, eine sozialdemokratische Partei zu sein. Das Bündnis für Arbeit und Freiheit ist unentbehrlich, weil bei dieser Wahl ein Mitte-rechts-Bündnis gegen eine islamisch-faschistische Regierung antritt. Die Türkei darf nicht zwischen diese beide Bündnisse gedrängt werden. Wir müssen eine Alternative ermöglichen. Wir sehen uns in der Rolle, der potenziellen Regierung ihre Grenzen aufzuzeigen. Wir wollen das Lenkrad dieses Landes ein Stück nach links reißen. Wann immer sich die Politik gegen Minderheiten richtet und die übrigen Oppositionsparteien nichts dagegen tun, sehen wir uns in der Pflicht, den offenen Laizismus, die Rechte von Frauen, LGBTIQ* und der kurdischen Bevölkerung und darüber hinaus die Rechte der Arbeiter*innen zu verteidigen.
Wahlsicherheit war eines der großen Sorgenthemen bei den vergangenen Wahlen. Wie wollen Sie die Sicherheit bei den anstehenden Wahlen gewährleisten, vor allem wenn man die Situation der Stimmberechtigten in der Erdbebenregion bedenkt?
Über drei Millionen Menschen aus elf Städten sind aus der Erdbebenregion umgesiedelt. Allerdings haben aktuell weniger als 400.000 Menschen in der Türkei offiziell ihren Wohnsitz verlegt, wozu nicht nur vom Erdbeben Betroffene zählen. Die einzige Möglichkeit für die Menschen, die sich nicht umgemeldet haben, zu wählen, besteht also darin, zur Stimmabgabe in ihre Heimatstadt zurückzukehren. Dafür müssen Busse und Flugzeuge zur Verfügung gestellt werden. Wir reden hier von millionen Menschen. Niemand hat derzeit die Mittel, das zu leisten. Im Grunde wurde diesen Menschen gewissermaßen ihr Wahlrecht bereits entzogen. Unsere Partei, die TİP, ist vor allem in Hatay sehr stark vertreten und organisiert. Wir werden in jedem Fall Beobachter*innen in den mobilen Wahllokalen haben. Aber diese Aufgabe können wir nicht allein bewältigen. Deshalb bündeln wir unsere Kräfte im Bündnis für Arbeit und Freiheit. Aber auch das wird nicht reichen. Wir müssen an dieser Stelle auch mit dem Bündnis der Nation zusammenarbeiten.
Es treten vier Kandidaten für die Präsidentschaftswahl an. Die erneute Kandidatur von Muharrem İnce, der bei den letzten Wahlen noch für die CHP angetreten ist, sorgt für Diskussionen. Es gibt Bedenken, dass seine Kandidatur eine Stichwahl zur Folge haben beziehungsweise eine Gefahr für Kemal Kılıçdaroğlu, den Kandidaten des Bündnisses der Nation, darstellen könnte. Wie denken Sie als ehemaliges CHP-Mitglied darüber?
Muharrem İnce begeht einen historischen Fehler. Was glauben Sie, verbindet die TİP und die islamistisch ausgerichtete Saadet-Partei? Beide wollen die Abwahl der aktuellen Regierung und damit die Befreiung vom Palastregime. Muharrem İnce hat sich selbst aus dieser Einigkeit ausgeschlossen. Bei den letzten Wahlen habe ich noch als CHP-Mitglied Wahlkampf für Muharrem İnce gemacht. Wenn nötig, würde ich es wieder tun, denn ich träume davon, in einem besseren Land zu leben. Ich glaube nicht, dass Muharrem İnces Einfluss so groß ist, dass es zu einer Stichwahl kommt. Falls doch, würde mich das sehr wütend machen, denn wir warten seit 22 Jahren auf diesen Moment. Ich habe keine Geduld mehr. Und wir können es uns auch nicht mehr leisten, auch nur 14 Tage länger, nein, nicht einmal 14 Stunden länger Zeit mit Erdoğan zu verbringen.
Aus dem Türkischen von Julia Lauenstein
Elif Akgül ist freie Journalistin. In der Türkei war sie Reporterin für den pro-kurdischen Sender IMC TV, und Redakteurin bei der Nachrichtenwebsite bianet.org. Aktuell schreibt sie für die Deutsche Welle, +90 und verschiedene kurdische Medien. Mit Çiçek Tahaoğlu veröffentlichte sie ein Handbuch über „Gender Based Journalism“. Für ihre Berichterstattung über den Mord an dem armenischen Journalisten Hrant Dink erhielten sie und Canan Coşkun den Special Price des Metin Göktepe Journalism Award.
Dieser Artikel ist am 3. Mai 2023 als Teil einer gemeinsamen Sonderbeilage der taz Panter Stiftung und Reporter ohne Grenzen zum Tag der Pressefreiheit erschienen.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Paragraf 218 im Rechtsausschuss
CDU gegen Selbstbestimmung von Frauen
Partei stellt Wahlprogramm vor
Linke will Lebenshaltungskosten für viele senken
FDP stellt Wahlkampf Kampagne vor
Lindner ist das Gesicht des fulminanten Scheiterns
Wahlkampf-Kampagne der FDP
Liberale sind nicht zu bremsen
Sednaya Gefängnis in Syrien
Sednaya, Syriens schlimmste Folterstätte
Syrische Geflüchtete in Deutschland
Asylrecht und Ordnungsrufe