Podcast über „Drachenlord“: Digital-analoge Eskalation
In Staffel zwei erzählt der Podcast „Cui Bono“ Internetgeschichte anhand eines bekannten Falls: „Drachenlord“ und die Macht von Reality-TV.
!["Hater" im frankischen Dorf von Winkler "Hater" im frankischen Dorf von Winkler](https://taz.de/picture/5917757/14/31511083-1.jpeg)
Am 20. August 2018 stehen etwa 900 Menschen vor einem Haus und wollen es stürmen. Es gehört keiner Bank, nicht dem Verkehrsministerium, ist kein Objekt von Immobilienspekulant*innen. Es steht in Franken in einem kleinen Dorf mit weniger als 50 Einwohner*innen. Drinnen sitzt: Reiner Winkler, der „Drachenlord“. Draußen werfen sie mit Steinen, mit Eiern, mit Böllern, es bricht ein Feuer aus. Drinnen streamt eines der größten deutschsprachigen Youtube-Phänomene. Der Drachenlord ist Opfer, später auch verurteilter Täter und ein Stück Internetgeschichte.
Kein Wunder also, dass die zweite Staffel des Podcasts „Cui Bono“ sich mit ihm befasst. Bereits in der ersten Staffel hat das Team um Host und Autor Khesrau Behroz bewiesen, was es kann: Die Geschichte des Internets und seinen Einfluss auf die Gesellschaft anhand eines besonders bekannten Falls erklären. In der letzten Staffel war es Ken Jebsen, der den Weg vom experimentellen Radiomoderator hin zum Verbreiter von Verschwörungserzählungen ging – und viele Menschen mitnahm.
In der neuen Staffel, einer Produktion von Studio Bummens und RTL+ Musik, geht es nun um den Drachenlord und die Macht von Youtube und Reality-TV. Mit „Big Brother“, die erste Staffel im Jahr 2000, zog Reality-TV in die Köpfe Deutschlands: Zlatko und Jürgen werden eingespielt, „Großer Bruder“, es ist lustig, klingt nach Party, wer will kann mitsingen – aber dann berichtet der Podcast von Manu. Die hatte einen Konflikt mit den Herzchen der Show, vor dem Container schreien Menschen: „Manu raus“. Das war damals die Stimmung in Gesellschaft und auch Medien. In der taz wurde sogar eine Initiative gegen Manu gefordert. Selbst nach der Show wird Manu weiter verfolgt, sie muss umziehen.
Winkler gehört zur nächsten Generation Reality-TV: Youtube. „Broadcast yourself“ lautete der Slogan der Plattform bis 2010. 2012 kam Winkler diesem Ruf nach, startete als Drachenlord einen Kanal und zeigte sich von da an beim Headbangen, Broteschmieren, Gamen. Immer wieder spielt der Podcast Ausschnitte aus dieser Zeit ein, lässt abermals Freude bringen, aber auch Cringe. Wie konnte daraus eine Hetzjagd entstehen?
Wie bei einem Vampir
Gleich zu Beginn der Staffel findet Behroz ein treffendes Bild: Vampire könnten, so erklärt er den alten Mythos, nur ins Haus ihrer Opfer kommen, wenn diese die Wesen selbst über die Türschwelle bitten. Winklers Schwester bekommt einen Anruf, in dem ihr – so erzählt er es selbst – mit Vergewaltigung gedroht wird. Winkler fordert seine Hater auf, sie in Ruhe zu lassen, stattdessen zu ihm zu kommen. Dann nennt er seine Adresse. Das „Drachen-Game“, bei dem es darum geht, einem Menschen, so krass es geht, zu schaden, ist eröffnet.
„Cui Bono“ zeigt gekonnt, wie die Szene der Hater eskaliert und die immer heftigeren Reaktionen Winklers. Doch auch wenn der Podcast selbst davon spricht, dass das Verhältnis „ambivalent“ sei: Täter*innen- und Opferrolle sind ganz klar. Und sie wird vom Podcast selber immer wieder gefestigt. So führt der Podcast eine der tragischsten Episoden des Drachen-Games wieder vor. Winkler macht einer Frau, die er erst seit wenigen Monaten kennt und nie analog gesehen hat, einen Heiratsantrag vor laufender Kamera. Sie lehnt nicht nur ab, sie beschimpft ihn, macht ihn lächerlich. Sie ist eine Haterin und sie wird flankiert von zwei feiernden Hatern. Tausende Menschen sahen das Video. Nun können wir diesen Angriff im Podcast immer und immer wieder hören.
Bis heute sind bei der Staatsanwaltschaft, so der Podcast, über 150 Ermittlungsverfahren in der Sache Drachenlord in Bearbeitung. Es geht um Beleidigung, Sachbeschädigung, Hausfriedensbruch, Körperverletzung. Winkler selbst wurde Anfang 2022 wegen Beleidigung und Körperverletzung zu einem Jahr auf Bewährung verurteilt – er hatte sich gewehrt. Dem Spiegel sagte Winkler kürzlich in seinem ersten ausführlichen Gespräch mit der Presse, dass er sich im Stich gelassen fühle von den Behörden.
„Cui Bono: Wer hat Angst vorm Drachenlord?“, zwei Folgen ab 17. November, danach immer donnerstags.
Auch wenn Winkler ein besonders krasser Fall ist, geht es vielen Opfern von sogenanntem Cybermobbing ähnlich. Es kann sogar in den Tod führen. In Österreich suizidierte sich im Juli 2022 die Ärztin Lisa-Maria Kellermayr, die Opfer einer digitalen wie analogen Hetzkampagne durch Coronaleugner und -verharmloser geworden war. Laut einer Studie sind in Deutschland allein 1,8 Millionen Kinder und Jugendliche von Cybermobbing betroffen. Deswegen ist es wichtig, dass dieser Podcast produziert wurde, dass er spannend, mitreißend erzählt, auch wenn er Schmerzgrenzen überschreitet. Noch wichtiger wäre es, dass Staat und Zivilgesellschaft aktiver werden.
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