Podcast „Geteiltes Leid“: Wenn Hilfe schadet
„Geteiltes Leid“, erzählt von mutmaßlichen Opfern ritueller Gewalt. Auch wenn die Metaebene nicht tief genug geht, überzeugt der Vierteiler.
Leonie ist 11, als sie das erste Mal in eine Klinik muss: Magersucht. Es folgen weitere Diagnosen wie Depressionen, Borderline. Immer wieder muss Leonie wegen autoaggressiven Verhaltens und Alkoholmissbrauchs ins Krankenhaus. Dann, mit 19, bekommt sie von ihrer Psychotherapeutin eine Erklärung: Sie soll jahrelanges Opfer ritueller sexualisierter Gewalt in ihrer Kindheit sein. Der Täter: ihr Vater. Für diese Anschuldigungen gibt es keine Beweise, aber es gibt schwerwiegende Folgen.
Von ihnen erzählt der Undone-Podcast „Geteiltes Leid“. In vier Folgen führen Host Olga Herschel und Reporter Sören Musyal durch die Geschichte von Leonie und durch die fragwürdigen Behandlungsmethoden. So nähern sie sich einem Thema an, das es seit Jahrzehnten in die Medien und in die Köpfe der Menschen schafft, aber in der Realität viel, viel kleiner ist: rituelle sexualisierte Gewalt.
Leonie selbst will nicht mit dem Podcast-Team reden. Nicht darüber, dass sie keinen Kontakt mehr zu ihren Eltern hatte. Nicht über ihr Netz aus Helfer*innen, das sie angeblich unterstützen wollte und deswegen abgeschirmt hat. Auch nicht darüber, wie ihre Süchte eskaliert sind, sie ins Krankenhaus musste, inzwischen körperlich und geistig behindert ist, wieder Kontakt mit ihren Eltern hat. Nicht darüber, ob sie noch immer glaubt, dass ihr Vater ihr Gewalt angetan hat.
Verdammt gut und glaubhaft
Stattdessen sitzen die Hörer*innen am Tisch mit ebendiesem Vater. Werden mitgenommen, wenn er erzählt, dass Leonie als Kind ein Zeitfresser war, der aber gleichzeitig auch immer wieder versucht hat, ihr zu helfen. Der auch erzählt, dass Leonie als junge Frau vergewaltigt wurde. Aber nicht groß weiter darauf eingeht. Wichtig ist in der Erzählung vielmehr: Wann hat Leonie welche Therapie gemacht? Wer hat sie in die Isolation gedrängt? Und wieso konnte sie so schwer Kontakt zu ihrer Mutter aufbauen?
Dafür gehen Leonies Eltern ihre SMS durch, lesen Nachrichten samt Emojis vor. Eltern und Podcast wollen zeigen: Die Gewalt war reine Einbildung. Und sie machen das verdammt gut und glaubhaft. In Polizeiakten blickt der Podcast allerdings nicht.
Dafür erzählen Musyal und Herschel von weiteren Fällen, etwa einem, in dem einem Mann ritualisierte Gewalt gegen seinen jetzt erwachsenen Sohn vorgeworfen wird. In seinem Umfeld: Personen, die auch bei Leonie auftauchen. Und am Ende redet dann Amelie. Auch ihr wurde in einer Therapie in einer Klinik nahegelegt, dass sie rituellen sexualisierten Missbrauch erfahren habe. Doch sie kann sich nicht erinnern. Wochenlang setzt sie sich in der Klinik damit auseinander, spielt mit, obwohl sie zweifelt. Heute spricht sie reflektiert über die Zeit, ordnet ein, ist kritisch gegenüber dem, was sie erfahren hat, woran sie sich erinnert oder eben nicht.
Diese Einordnung einer Betroffenen ist die Rettung für den Podcast, der in den Folgen davor droht zu zerfransen. Er will die Hörenden auf eine Metaebene hieven, die er aber nicht erreicht. Expert*innen kommen zwar zu Wort, erzählen vom Kampf zwischen jenen, die an abgespaltene Persönlichkeiten und rituelle Gewalt glauben, und ihren Gegner*innen. Es wird ein erzählerischer Ausflug gemacht zu Jan Böhmermanns gelöschter „ZDF Magazin Royal“-Folge zum Thema. Sowie zum US-amerikanischen Vorläufer der Verschwörungserzählung über rituelle Gewalt, der „Satanic Panic“. Spannend, aber für einen genauen Blick auf die Gesellschaft zu kurz. Wieso glauben nicht nur (vermeintliche) Opfer an derlei Taten, sondern auch Wissenschaftler*innen und wir als Gesellschaft? Liegt es an der Brutalität oder am Faktor Religion?
Dass „Geteiltes Leid“ trotz allem zu empfehlen ist, liegt nicht nur am starken Ende mit Amelie, sondern vor allem auch an Herschel. Sie hat selbst als Ärztin 5 Jahre lang in Bereich der Kinder- und Jugendpsychiatrie gearbeitet. Ihr Blick auf das Thema sind ein Glücksfall für den Podcast und den Journalismus.
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