Platznot im Kindergarten: „Das System ist nicht starr“
Grünen Politiker Matthias Güldner fordert die Einführung eines Kita-Gutschein-Systems binnen drei Jahren für einen besseren Ausbau.
taz: Herr Güldner, Sie haben Kinder mit Rechtsanspruch auf einen Kita-Platz. Haben die einen gekriegt?
Matthias Güldner: Ich habe Zwillinge im Kleinkindalter. Einen Abgeordnetenbonus gibt es in Bremen Gott sei Dank nicht: Einen Krippenplatz haben wir für die beiden trotz Geschwisterkind in der Kita nicht bekommen. Derzeit betreut eine Tagesmutter unsere Zwillinge. Das ist völlig okay.
Über 700 Kinder haben derzeit keinen Platz. Woran liegt das?
Wir haben das Kita-System für die Ein- bis Dreijährigen geöffnet, inklusive Rechtsanspruch. Es gibt nach der Geburt tatsächlich sehr wenig Vorlaufzeit zur Schaffung eines benötigten Platzes. Starke Schwankungen wie bei der Geburtenrate in den letzten Jahren kann unser starres System nicht ausgleichen. Dafür ist die staatliche Planung zu kleinteilig und langwierig.
56, Politologe, ist seit 1999 für Bündnis 90/Die Grünen Abgeordneter der Bremischen Bürgerschaft, sitzt seit 2015 der staatlichen Deputation für Kinder und Bildung vor.
Warum ist das System so starr?
Jeder Träger muss immer erst den Staat fragen, bevor er einen Platz einrichten darf. Die Bildungsbehörde muss jeden einzelnen Kita-Platz zentral planen, genehmigen und finanzieren. Auch bei großer Nachfrage dürfen gemeinnützige Träger ohne Genehmigung nichts tun.
Investoren, Träger und Betroffene beklagen, dass die Behörde auf Anträge nicht angemessen reagiere …
Absurdes Beispiel: Ein bremischer Träger hatte kürzlich neue Räume zur Kinderbetreuung geplant, aber noch keine abschließende Genehmigung für den Ausbau. Weil es dem Träger irgendwann zu lange dauerte, hat er einen Raum schon mal mit weißer Farbe gestrichen. Danach kam es zum Streit. Die Behörde nannte es „Fehlverhalten eines Trägers“. So bringt man den breiten und schnellen Ausbau von Kitas nicht voran.
Hamburg hat in den letzten zwölf Jahren seine Plätze verdreifacht, von rund 7.300 auf 23.100. Wie?
Mit Hilfe des Kita-Gutscheinsystems. Das vereinfacht die Planung ungemein. Der Staat trägt zwar noch die Verantwortung für die Kita-Betreuung, hält sich aber aus der konkreten Ausgestaltung zurück. Die wird den Trägern unter politisch bestimmbaren Maßgaben überlassen.
Sie haben kürzlich eine Anhörung zum Thema organisiert. Dort sprachen Sören Arlt und Torsten Wischnewski-Ruschin. Arlt hat das Hamburger Gutscheinsystem aufgebaut, Wischnewski-Ruschin die Einführung aus Sicht des paritätischen Wohlfahrtsverbandes in Berlin mitgemacht. Beide rieten zur Einführung eines Gutscheinsystems. Was schließen Sie aus den Vorträgen?
Erstens: Es kann funktionieren. Zweitens: Es gibt viele Varianten. Das System ist nicht starr, wir können uns die zu Bremen passenden und funktionierenden Elemente aus dem Hamburger und Berliner Vorbild zusammensuchen. Beispiel: Hamburg hat einen kleinen Anteil gewerblicher Träger von Kitas. Berlin hat so etwas qua Gesetz ausgeschlossen. Es gibt viel politischen Spielraum.
In Hamburg lief die Einführung des Systems nicht komplett reibungslos.
Unser Vorteil ist, dass die Hamburger 15 Jahre gebraucht haben, bis ihr System so stand wie jetzt. In Berlin lief die Einführung schon wesentlich geräuschloser. Aber es ist natürlich unmöglich, das System aus dem Stand umzustellen und damit binnen kurzer Zeit 55 neue Kitas hervorzubringen. Wir müssen den Kita-Ausbau mit den bestehenden Mitteln auf den Weg bringen – gleichzeitig müssen wir jetzt eine Taskforce für die Systemumstellung einrichten. Die Umstellung muss dann erfolgen, wenn Teile des Ausbaus schon erledigt sind. Einen schnellen Systemwechsel gleichzeitig mit dem riesigen Kita-Ausbau wird es so nicht geben.
Da wären Sie also bei Staatsrat Frank Pietrzok (SPD). Der sagt: „Alles, was uns aufhält, ist schwierig. Ein Gutscheinsystem steht im Konflikt mit dem Ausbau.“
Da würde ich klar widersprechen. Wir müssen nur aufpassen, dass nicht dieselben Leute für den Ausbau und für die Implementierung eines Gutscheinsystems verantwortlich sind. Dafür brauchen wir zusätzliche Kräfte. Außerdem müssen wir die gemeinnützigen und freien Träger einbeziehen. Damit der Platzausbau gut wird, müssen wir zwei parallele Prozesse bewältigen.
Derzeit müssen Eltern einen Antrag in ihrer Wahlkita stellen. Was würde sich mit dem Gutscheinsystem ändern?
Die Behörde ist bei der Kita-Suche nicht mehr zwischengeschaltet. Man sucht sich eine Kita und gibt dort seinen Gutschein ab. Es verschlankt den bürokratischen Aufwand und Eltern können sich eine Einrichtung suchen, die ihren Bedürfnissen entspricht.
Wolfgang Bahlmann, Geschäftsführer von Kita Bremen, bemängelt dass durchs Gutscheinsystem Dienstleistungen externalisiert werden müssten, um konkurrenzfähig zu bleiben. Die Betriebsräte fürchten, dass Lohnkosten sinken. Zurecht?
Das muss man nicht in Kauf nehmen. Das neue System muss so angelegt sein, dass es nicht auf Kosten der Beschäftigten geht. Ich bin bei Kita Bremen im Betriebsausschuss und weiß, der Träger ist gut geführt. Der kann sich dem neuen System stellen, ohne wichtige Prinzipien aufzugeben.
Ein weiteres Kritiker-Argument: Wenn Träger die Wahl haben, gehen sie nur in wohlhabende Stadtteile.
Die Zahlen aus Hamburg und Berlin widerlegen das. Dort sind im Gutscheinsystem viele Einrichtungen in ärmeren Stadtteilen entstanden. Sozial motivierte Träger wie Wohlfahrtsverbände und Kirchen suchen gezielt diese Standorte. Für den städtischen Träger in Hamburg wie in Bremen gehört es zu den normalen Aufgaben. Wir überlassen die Kinderbetreuung nicht den Kräften des Marktes.
Sören Arlt aus Hamburg sprach davon, dass gerade die gegenwärtige Lage eine Chance sei: „Die Risiken sind gering, solange der Markt expandiert.“ Welchen Zeitrahmen halten Sie für realistisch?
Wir sollten das Gutscheinsystem noch in der gegenwärtigen Ausbauphase einführen. Mit einer zusätzlichen Taskforce kann man die Gutscheinlösung bis in spätestens drei Jahren umsetzen.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Nan Goldin in Neuer Nationalgalerie
Claudia Roth entsetzt über Proteste
Politikwissenschaftlerin über Ukraine
„Land gegen Frieden funktioniert nicht“
Krieg in der Ukraine
Geschenk mit Eskalation
Krieg in der Ukraine
Kein Frieden mit Putin
Scholz und Pistorius
Journalismus oder Pferdewette?
taz-Recherche zu Gewalt gegen Frauen
Weil sie weiblich sind