Plastik an der norwegischen Küste: Das Meer als Müllhalde
Der Golfstrom treibt immer mehr Plastikmüll an die Küsten Norwegens. Die Anwohner mobilisieren jetzt zum Aufräumen.
Über Jahrzehnte hat die Strömung hier angeschwemmt, was Menschen achtlos weggeworfen haben: Öltonnen und Kanister, Planen, große Plastikwannen, wie sie in der Fischindustrie benutzt werden, die Reste einer Mülltonne. Sogar ein Kühlschrank schwimmt in einer braunen Brühe. „Diese Insel zeigt nicht nur uns hier an der Küste, sondern der ganzen Welt, welche Folgen unsere Konsumgesellschaft für die Natur hat“, sagt Gaasø, der sich bei der Umweltorganisation Clean Shores engagiert. „Es ist einfach nur schrecklich.“
Diese Müllkippe in der See ist nicht die einzige an der norwegischen Küste. Auf einem Abschnitt von 66 Kilometern – und das ist nur ein Prozent der norwegischen Küstenlinie – hat der Geologe Eivind Bastesen von der Universität Bergen 660 Buchten ausgemacht, in denen Müll angeschwemmt wurde. 250 davon sind ähnlich schlimm verschmutzt wie die kleine Heideinsel.
Trotzdem ist dieses Eiland für die beiden Männer etwas Besonderes. Denn hier hat nie jemand aufgeräumt. „Vielleicht ist hier einmal im Jahr jemand gewesen, aber er sich das angeschaut und die Insel wieder verlassen, ohne etwas zu unternehmen“, sagt Gaasø. „Niemand fühlte sich für die Natur verantwortlich.“
Plastik aus den 50er Jahren
Für die Wissenschaft ist das eine gute Nachricht. „Wir wollen aus dieser Insel ein Forschungsprojekt machen“, erklärt Bastesen. Weil hier über Jahrzehnte nichts verändert wurde, könne man sehr gut untersuchen, welchen Einfluss der Müll auf Natur und Tiere habe. „Wir fragen uns: Was passiert hier? Ist das hier eine Fabrik, die Mikroplastik produziert und ihn ins Meer freilässt? Vielleicht ist es aber auch ok, wie es ist. Das versuchen wir, herauszufinden.“
Mit bloßen Händen graben die beiden Männer in der Erde und holen Plastikflaschen aus Großbritannien, Reste einer Glühbirne aus den Niederlanden und eine Chipsverpackung aus Deutschland hervor. „Wir wollen herausfinden, wann das alles angefangen hat“, erklärt Bastesen. „Der ganze Boden hier besteht ja aus Plastik.“ Er misst mit dem Zollstock. Einen Meter tief haben sie schon gegraben. „Ich glaube, dass wir Plastik aus den 50er Jahren finden werden. Denn an diese Insel wurde aufgrund der Strömung schon immer viel angeschwemmt.“
Die Verursacher sind nicht leicht auszumachen. Der Müll kommt aus verschiedenen Ländern, teilweise von Booten, der Fischindustrie. Plastikbesteck und Ketchupflaschen weisen auf ein Picknick am Strand hin. Bei vielen Gegenständen ist es schwer zu verstehen, wie sie hier landen konnte.
Industrie muss mithelfen
84 Prozent des Mülls, der an den europäischen Stränden angespült wird, ist aus Plastik, hat die gemeinsame Forschungsstelle JRC der Europäischen Kommission herausgefunden. Und davon sei rund die Hälfte für den einmalige Gebrauch bestimmt: Plastikflaschenverschlüsse, Zigarettenkippen, Bonbonpapier, Wattestäbchen, Schokoriegelverpackungen. Will man diesen Müll vermeiden, muss man die Industrie ins Boot holen.
Die Europäische Kommission hat deshalb eine Richtlinie zur Verringerung der Abfälle aus Einwegkunststoffen und Fanggeräten vorgeschlagen. Sie will einige der problematischsten Einwegkunststoffe verbieten, für die es bereits Alternativen auf dem Markt gibt.
Der Umweltschützer Gaasø begrüßt solche Initiativen und weist auf ein Metallrohr hin, das aus dem Wasser ragt: „Dieses Rohr sollte einen Wert haben, so dass ich ermutigt werde, es nicht über Bord zu werfen, sondern es zurückzubringen, weil es wiederverwertet werden kann“, meint er.
131.633 Freiwillige sammelten 900 Tonnen Müll
Dass ausgerechnet in der schönen norwegischen Natur solche Müllhalden entstehen konnten, hat viele Norweger geschockt – und aktiviert. Bei den freiwilligen Strandsäuberungsaktionen sind in diesem Jahr über 900 Tonnen Müll gesammelt worden. 131.633 Freiwillige haben zusammen 3.500 Kilometer Küste von Abfall befreit. Die Bereitschaft aufzuräumen, ist enorm.
Seit man 2017 hier in der Nähe einen Wal gefunden hat, der verhungerte, weil sein Magen voller Plastik war, hat sich was geändert, bestätigt Lise Keilty Gulbransen von der Organisation „Hold Norge Rent“ (Haltet Norwegen sauber), die diese Strandaktionen organisiert. „Das Interesse an der Verschmutzung der Meere hat nach dem Fund des Wals deutlich zugenommen, und dieses Interesse wächst stetig.“ Immer mehr Einzelpersonen, Organisationen und Unternehmen wollten sich an der Arbeit gegen die maritime Verschmutzung beteiligen.
Auch die Regierung zieht mit. Norwegen sieht sich im Kampf für saubere Meere in einer globalen Führungsrolle. „80 bis 90 Prozent des Plastiks kommt von Land“, sagt Entwicklungsminister Nikolai Astrup. „Deshalb ist es wichtig, in Entwicklungsländern Abfallsysteme aufzubauen, mehr Wissen über die Verschmutzung der Meere zu vermitteln und eine effiziente Säuberung zu ermöglichen.“ 1,6 Milliarden norwegische Kronen (170 Millionen Euro) stellt Norwegen dafür in den nächsten vier Jahren bereit.
„Wir sind für all das hier veranwortlich“
„Ich glaube, wir haben gerade einen guten Moment“, sagt auch Gaasø. „Das Thema bekommt Aufmerksamkeit, nicht nur lokal, auch global, die Regierung reagiert, die EU reagiert, wir sehen ein globales Interesse, das direkt in die Korridore der Macht einzieht. Große Konzerne wie Coca Cola ändern ihre Methoden, um diesen Plastikärger zu vermeiden, und ich bin zuversichtlich, dass wir diesen Kampf aufnehmen können.“
Aber dazu seien internationale Anstrengen erforderlich, meint Gaasø. Denn auch andere Länder in Europa haben mit dem Problem zu kämpfen, wie zum Beispiel Spanien. Am schlimmsten betroffen ist dort einem Bericht der Umweltorganisation Ecologistas en Acción zufolge der Strand der spanischen Nordafrika-Exklave Melilla.
Pro Quadratmeter wurden dort 33 Müllteile aufgesammelt. Aber auch in Urlaubsregionen wie Mallorca sind die Küstengebiete zum Teil völlig verdreckt. Dort wurden nach Angaben des regionalen Umweltministeriums allein im Juli 2017 am Strand und in Küstennähe neun Tonnen Müll gefischt. Rund 40 Prozent davon sei Plastik gewesen, hieß es.
„Wir sind für all das hier verantwortlich. All das hier haben Menschen weggeworfen“, sagt der Wissenschaftler Eivind Bastesen. Das einzige, was man machen könne, sei, die ganze Küste aufzuräumen. „Aber dazu brauchen wir die Hilfe der Regierung. Im Moment sind es nur Freiwillige, die den Müll aufsammeln. Wir brauchen Maschinen und Technologie, um den Job zu machen. Es nicht unmöglich, aber es kostet Zeit und Geld.“
Links lesen, Rechts bekämpfen
Gerade jetzt, wo der Rechtsextremismus weiter erstarkt, braucht es Zusammenhalt und Solidarität. Auch und vor allem mit den Menschen, die sich vor Ort für eine starke Zivilgesellschaft einsetzen. Die taz kooperiert deshalb mit Polylux. Das Netzwerk engagiert sich seit 2018 gegen den Rechtsruck in Ostdeutschland und unterstützt Projekte, die sich für Demokratie und Toleranz einsetzen. Eine offene Gesellschaft braucht guten, frei zugänglichen Journalismus – und zivilgesellschaftliches Engagement. Finden Sie auch? Dann machen Sie mit und unterstützen Sie unsere Aktion. Noch bis zum 31. Oktober gehen 50 Prozent aller Einnahmen aus den Anmeldungen bei taz zahl ich an das Netzwerk gegen Rechts. In Zeiten wie diesen brauchen alle, die für eine offene Gesellschaft eintreten, unsere Unterstützung. Sind Sie dabei? Jetzt unterstützen