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Philosoph Kant im DialogIm Namen des moralischen Gesetzes

Der Philosoph Omri Boehm erhält in Leipzig den Buchpreis für Europäische Verständigung. Mit Daniel Kehlmann spricht er, in Buchform, über Kant.

Das Gespräch pflegte einst auch Immanuel Kant, wie hier in Emil Doerstlings Gemälde „Kant und seine Tischgenossen“ Foto: akg-images

Das Erscheinungsdatum ist günstig gewählt. Am 22. April steht der 300. Geburtstag des Philosophen Immanuel Kant an, und dem Philosophen Omri Boehm, einem Kenner Kants, wird am Mittwoch auf der Leipziger Buchmesse der Buchpreis für Europäische Verständigung verliehen.

Da das Werk, das den Anlass für die Ehrung bot, Boehms „Radikaler Universalismus“, ein Plädoyer für eine Rückbesinnung auf Kant zur Überwindung von Identitätspolitik, schon zwei Jahre alt ist, hat sein Verlag Propyläen pünktlich eine doppelt anlassgerechte Lösung gefunden: einen Gesprächsband, in dem sich der Geehrte Boehm mit dem Schriftsteller Daniel Kehlmann über den Jubilar austauscht.

„Der bestirnte Himmel über mir“ ist betitelt nach einem berühmten Zitat aus Kants „Kritik der praktischen Vernunft“, einem seiner Hauptwerke. Zustande kam das Gespräch auf Vorschlag des Verlags, der Boehm und Kehlmann Gelegenheit gab, sich zwei Tage lang miteinander zu unterhalten.

Das Buch

Omri Boehm, Daniel Kehlmann: „Der bestirnte Himmel über mir“. Aus dem Englischen von Michael Adrian. Propyläen Verlag, Berlin 2024, 352 Seiten, 26 Euro

Dass Kehlmann der Dialogpartner Boehms ist, hat seine Gründe. Unter anderem den, dass Kehlmann selbst Philosophie studierte und schon eine Dissertation über den Begriff des Erhabenen bei Kant begonnen hatte, als ihm seine Karriere als Schriftsteller dazwischenkam. Immerhin verschaffte er Kant in seinem Roman „Die Vermessung der Welt“ dann einen tragikomischen Auftritt.

Kehlmann gibt sich im Vorwort zugleich als Fan von Boehms „Radikaler Universalismus“ zu erkennen. Das Buch habe ihm einen Kant gezeigt, der nichts von dem angestaubten Pedanten habe, auf den Kant im öffentlichen Gedächtnis oft reduziert werde. Statt als Verfasser umständlicher Sätze mit dem Charme eines Verwaltungsbeamten sei ihm Kant hier als „aufregend“ begegnet. Kein schlechtes Kompliment für einen Denker, dessen Schriften im Zeichen der Vernunft stehen.

Kant und KI

Nun kommt, wenn Philosophen ein repräsentatives Alter vorzuweisen haben, fast zwanghaft die Frage auf: Was hat er uns heute noch zu sagen? Da­rauf könnte man prinzipiell antworten: dasselbe wie zu Lebzeiten. Man könnte schließlich auch umgekehrt an die Sache herangehen und aktuell fragen: Was hat die Gegenwart eigentlich Kant zu sagen?

Kehlmann führt dazu als Kritiker von „Würdigungen“ den Philosophen Theodor W. Adorno ins Feld. Dieser nahm seinerzeit den 125. Todestag Hegels zum Anlass, um zum Thema zu bemerken: Eine Würdigung „meldet den unverschämten Anspruch an, daß, wer das fragwürdige Glück besitzt, später zu leben, und wer berufsmäßig mit dem befaßt ist, über den er zu reden hat, darum auch souverän dem Toten seine Stelle zuweisen und damit gewissermaßen über ihn sich stellen dürfe. In den abscheulichen Fragen, was an Kant und nun auch an Hegel der Gegenwart etwas bedeute […], klingt diese Anmaßung mit.“

Von dieser Anmaßung sind Boehm und Kehlmann weit entfernt. Sie verständigen sich über Kant aus der Perspektive zweier leidenschaftlicher Kant-Leser. Dass Kehlmann mehr Fragen stellt und Boehm in der Regel längere Redebeiträge liefert, ist dem Umstand geschuldet, dass Boehm „berufsmäßig“ mehr mit Kant befasst ist. Doch ist Kehlmann keinesfalls der Stichwortgeber, der Austausch erfolgt auf Augenhöhe.

Da sie aus historischem Abstand sprechen, bringen sie Denkerinnen und Denker ins Spiel, die nach Kant kamen, von Friedrich Nietzsche bis Hannah Arendt, und deren Beiträge sie nicht ausnahmslos als Fortschritt im Denken charakterisieren, besonders bei Nietzsche nicht. Ebenso richten sie nicht ausschließlich Fragen an Kants Schriften, sondern stellen diese ganz selbstverständlich in heutige Zusammenhänge. Etwa wenn Kehlmann zum Verhältnis von Kunst und Künstlicher Intelligenz anmerkt, dass aus kantischer Sicht „das, was Kunst ist, eben genau das ist, was ein Algorithmus nicht hervorbringen kann.“

Korrekturen an Kant

Vielen der vorgebrachten Gedanken im Buch kann man bei ihrem Entstehen folgen. Ein Einwand etwa wird schon mal im zweiten Anlauf einer Antwort korrigiert. Überhaupt hat der Verlag mit der Dialogform mehr als eine lediglich praktische Lösung gewählt, bei der man nicht warten musste, bis Omri Boehm ein neues Buch geschrieben hat.

Denn so knüpfen Boehm und Kehlmann, formal zumindest, an die Tradition der Schriften des antiken Philosophen Platon an. Der entwickelte seine Ideen in der Regel in Dialogen des So­krates mit wechselnden Gesprächspartnern, wenngleich meistens in didaktischer Absicht. Boehm und Kehlmann wirken nicht in dieser Weise „geskriptet“. Auch heiklen Fragen stellen sie sich ausdrücklich.

Dass man an Kant mittlerweile Aspekte kritisiert, die seinen Zeitgenossen weniger stark aufgestoßen sein mögen, nehmen Boehm und Kehlmann nicht bloß zur Kenntnis, sie reiben sich mitunter kräftig an Aussagen des berühmten Vertreters der Aufklärung. Dieser erhob immerhin das Selbstdenken zum Maßstab der Aufklärung, und zu seiner Ethik gehört der zentrale Gedanke, dass man Menschen stets als „Zweck an sich“ und nie bloß als „Mittel“ behandeln sollte, dass man sie, grob gesagt, nicht instrumentalisieren darf.

Dieser Kant schrieb in seiner „An­thropologie“ gleichwohl Sätze, die rassistisch sind. Was zu Kritik an Kant und der Aufklärung geführt hat, mit dem Fazit, dass an beiden nicht viel dran sein kann, wenn sie solche Aussagen einschließen.

Boehm und Kehlmann bestreiten den Rassismus Kants an keiner Stelle. Ihre Antwort lautet jedoch nicht, dass man Kant deshalb rundheraus ablehnen sollte, sondern dass diese Aussagen seiner „unwürdig“ sind. Sie sehen diese Sätze im Widerspruch zu Kants fundamentalen Aussagen über Ethik und Menschen. So bestritt Kant, dass es verschiedene Arten von Menschen gibt. Auch wandte er sich explizit gegen die Sklaverei.

Widerspruch als Denkfigur

Dass sich in Kants Werk derlei Unstimmigkeiten finden lassen, passt zu einem Begriff, den er in seiner „Kritik der reinen Vernunft“, seinem erkenntnistheoretischen Hauptwerk, geprägt hat: der Antinomie. Boehm beschreibt diese Denkfigur als einen Weg, Widersprüchliches zu denken. Die Widersprüche werden dabei nicht aufgelöst, man legt sich vielmehr über ihre Unauflösbarkeit Rechenschaft ab. Ein solches Beispiel scheint Kant mit seinen rassistischen Bemerkungen selbst abzugeben. Klar zu seinem Nachteil, aber ohne ihm damit einen Totalschaden attestieren zu müssen.

In „Der bestirnte Himmel über mir“ macht sich eine sehr gegenwärtige Begeisterung der beiden für Kant bemerkbar, die sich beim Lesen immer wieder überträgt. Gleichwohl sei nicht verschwiegen, dass sie eher ein Gelehrtengespräch führen, als dass sie eine laienfreundliche Handreichung zum sachgemäßen Gebrauch von Kant bieten würden, was für Kantunkundige ein Hindernis darstellen mag. Manchen Überlegungen lässt sich ohne Vorwissen wenig bis gar nicht folgen. Möglich, dass dies immer noch genügt, um Neugier auf Kant zu wecken.

Trotz der Länge des Buchs hätte man sich manches dennoch ausführlicher gewünscht. Die Bemerkungen zu Kants Theorie des „radikalen Bösen“ zum Beispiel, die Boehm als „ziemlich undurchsichtig“ abtut. Womöglich stört ihn die Vorstellung, dass man sich laut Kant frei gegen das Gute entscheiden kann. Für Boehms Interpretation von Kants Freiheitsbegriff bringt das ein paar Schwierigkeiten mit sich. Denn frei zu sein heißt laut Boehm „dasselbe wie moralisch zu handeln“. Was, so formuliert, übermäßig verkürzt ist.

Wichtiger als das Handeln selbst ist bei Kant die Selbstverpflichtung auf das „moralische Gesetz“, die dem Handeln zugrunde liegende Haltung. Dass Kant die Möglichkeit einräumt, sich bei der eigenen Haltung gegen das moralische Gesetz als Pflicht zu entscheiden und lieber aus eigennützigen Motiven zu handeln, erscheint jedenfalls kein Ding der Undenkbarkeit.

Ebenso wenig sei verschwiegen, dass Boehm seine Deutung von Kants Universalismus, nach dem Freiheit als „absolute Pflicht“ für alle Menschen gilt, schon mal heranzieht, um eine „binationale“ Lösung für den Staat Israel vorzuschlagen. Doch das ist eine andere Geschichte und geht nicht auf das Konto Kants.

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5 Kommentare

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Kommentarpause ab 30. Dezember 2024

Wir machen Silvesterpause und schließen ab Montag die Kommentarfunktion für ein paar Tage.
  • "Gleichwohl fänden sich in Kants Anthropologie Sätze die rassistisch zu werten seien ...



    Konkret: welche denn?



    Als rassistisch wird Kant in der Regel von Kulturrelativisten bezeichnet, denn: er habe eine Ethik gefordert die 1. allgemein nachvollziehbar einleuchtet, und sich 2. auf alle bezieht.



    Das nennen jene, die "ihrer" erwählten Community spezielle Erbsen verbieten: rassistisch

    • @ferry:

      Kant ein Rassist ?

      Zitat @ferry: „Gleichwohl fänden sich in Kants Anthropologie Sätze die rassistisch zu werten seien ...Konkret: welche denn?“

      Na, z. B. diese hier: „Die Menschheit ist in ihrer größten Vollkommenheit in der Rasse der Weißen. Die gelben Indianer haben schon ein geringeres Talent. Die Neger sind weit tiefer, und am tiefsten steht ein Teil der amerikanischen Völkerschaften.“ („Physischen Geografie“)

      oder



      „Die Negers von Afrika haben von der Natur kein Gefühl, welches über das Läppische stiege.“ Zudem seien Schwarze „sehr eitel und so plauderhaft, dass sie mit Prügeln müssen auseinander gejagt werden.“ (Beobachtungen über das Gefühl des Schönen und Erhabenen“)

      Kant hat das Konzept „Rasse“ nach Deutschland getragen, um, wie Hegel, Sklaverei und die Tötung von Schwarzen zu rechtfertigen. Es sei zweifelsohne gerechtfertigt, „Kant als Rassisten zu bezeichnen. Nicht nur weil er sich offenkundig, über Jahrzehnte hinweg, abfällig über Menschen anderer Hautfarbe geäußert hat. Sondern vor allem, weil er Immanuel Kant war. Denn der hätte es tatsächlich besser wissen müssen.“(Marianna Lieder„Kant und der Rassismus“, Philosophie.Magazin“, 2. 1.2021)

      Wenige Menschen dürfte es allerdings geben, die Kant überdies als Antisemiten wahrnehmen. Dieses Leuchtfeuer der Zukunft war vor allem auch der spiritus rector des religionsphilosophisch begründeten Antisemitismus avant la lettre. Für ihn waren die Juden „Vampyre der Gesellschaft‘ und forderte deren Euthanasie. Er sah im Judentum lediglich ein absurdes und sinnloses Gesetzeswerk ohne moralischen Bezug und sei daher eigentlich keine Religion, ganz im Gegensatz zum Christianismus, dessen Regeln Kant zufolge um einen moralischen Kern kreisten. Der jüdische Gott hingegen fordere vom Menschen die bloße Respektierung von Geboten, nicht aber von moralischen Prinzipien. (vgl. Markus Voss-Göschel „Zum Stellenwert vom theoretischen Antisemitismus in Immanuel Kants Religionsphilosophie“, Univers. Jena, 2013)

  • Kant und die Debatte um die Israelfrage

    Zitat: „Ebenso wenig sei verschwiegen, dass Boehm seine Deutung von Kants Universalismus, nach dem Freiheit als „absolute Pflicht“ für alle Menschen gilt, schon mal heranzieht, um eine „binationale“ Lösung für den Staat Israel vorzuschlagen. Doch das ist eine andere Geschichte und geht nicht auf das Konto Kants.“

    Er tut dies auf eine sehr überzeugende Weise, die es wert wäre, in der Debatte um die Zukunft Israels an eine größere Glocke gehängt zu werden, denn sie berührt ein Grundproblem der hiesigen „Kommunikationsethik“ (Habermas) bei israelbezogenen Themen:

    "In seinem berühmten, 1784 in der „Berlinischen Monatsschrift“ erschienenen Aufsatz „Was ist Aufklärung?“ definiert Kant diese als „Ausgang des Menschen aus seiner selbstverschuldeten Unmündigkeit“: ein Prozess des Erwachsenwerdens,



    der darin besteht, den „Mut“ zu finden, sich seines „eigenen Verstandes zu bedienen“.



    Um sich seines eigenen Verstandes zu bedienen, um selbst zu denken, muss man erstens versuchen, über die Perspektive der privaten - persönlichen, historischen, beruflichen, bürgerlichen - Verpflichtungen hinauszuschauen und von dem kosmopolitischen »allgemeinen Standpunkte« aus zu urteilen…



    Man übersieht meist die Konsequenzen, die diese Grundeinstellung für die israelisch-deutschen Beziehungen hat. Ein Deutscher, der in Bezug auf die israelische Politik Selbstzensur übt - der also den privaten Verpflichtungen treu bleibt, die sich aus der deutschen Vergangenheit ergeben, weigert sich, den Standpunkt der Aufklärung einzunehmen, sobald er sich mit jüdischen Angelegenheiten beschäftigt. Er weigert sich buchstäblich, selbst zu denken.“ (Omri Beohm, Israel - eine Utopie", Berlin, 2020)

    Diesen Eindruck muß man bei vielen Beiträgen und Kommentaren zur Israel-Frage bekommen.

    • @Reinhardt Gutsche:

      "Den Mut zu finden, sich seines eigenen Verstandes zu bedienen"? What a Kant.

      • @Sam W:

        Genau: Sich entschließen, ermutigen und befähigen...