piwik no script img

Petzende Poeten und denunzierte Dichter

Kontrolle ist besser, hieß die Devise der Stasi, also heuerte sie in der Ära Honecker 1.500 Schriftsteller als Spitzel gegen Kollegen an. „Sicherungsbereich Literatur“ heißt die aufregende Studie, die Joachim Walther jetzt vorgelegt hat  ■ Von Udo Scheer

Die inoffizielle Mitarbeiterin „Margarete“ hat also nur unwillig und über allgemeine Sachverhalte dem Ministerium für Staatssicherheit berichtet. Bereits bei ihrer Werbung äußerte Christa Wolf Skrupel gegenüber einer Spitzeltätigkeit für die „Firma“. Auch dies erfährt der Leser aus Joachim Walthers Buch mit dem unsäglichen, der Lingua securitate entlehnten Titel: „Sicherungsbereich Literatur“.

Sein letzte Woche im Ch. Links Verlag Berlin erschienenes Forschungsextrakt aus 150.000 Blatt Stasi-Akten und einer ganzen Bibliothek an Sekundärliteratur sei eine solide Recherche, biete aber kaum neue Erkenntnisse, verkündeten Teile des Feuilletons schon am Erscheinungstag. Die IM-Tätigkeit von Robert Havemann bis Erwin Strittmatter – alles schon bekannt, hieß ihr rasches und verkürztes Urteil. Walther ahnte diese Anwürfe, als er schrieb, daß es ihm am wenigsten um spektakuläre Enthüllungen ginge. „Das Fatalste (ist es), durch eindimensionales, faktenüberfliegendes Urteilen neues Unrecht in die Welt (zu) setzen.“

Tatsächlich relativiert sich außerhalb der feuilletonistischen Schlüssellochperspektive selbst Fritz Rudolf Fries' (IM „Pedro Hagen“) faustischer Pakt mit dem MfS. Zeigte er sich doch erstaunlich störrisch, ehe er in seinem Führungsoffizier einen Herrn akzeptierte und die gereichten Happen, wie Reisen ins „Nichtsozialistische Ausland“, schätzen lernte und letztlich eifrig rapportierte.

Mancher Schriftsteller, Literaturwissenschaftler und Verleger wird jetzt das getrennte Klar- und Decknamenregister klopfenden Herzens oder sensationsheischend durchrastern. Doch wer meint, in dem 888-Seiten-Kompendium ein „Who's who?“ der DDR-Schriftsteller-IMs vorzufinden, wird eines Besseren belehrt. Zwar bietet es zahlreiche Fallbeispiele, doch Joachim Walther geht es um „Durcharbeiten und Aufklären. [...] Von Geschichte, versteht sich. Nicht, wie auch unterstellt wurde, um Anklagen und Verfolgen [...] von Personen.“

Welchen Diffamierungsversuchen der 1943 geborene Autor von 20 Büchern, darunter der DDR- Bestseller „Das Verführerbüchlein“, während der drei Jahre Forschungsarbeit in der Gauck-Behörde ausgesetzt war, mögen nur zwei Beispiele illustrieren. Hermann Kant, der IM „Martin“, urteilte im Escape (1995) verquast: „Selbst Joachim W., den wir wegen seiner nunmehr offiziellen Tätigkeit zurückhaltend Pastor Gaucks Gucki („kleines Gerät mit Vergrößerungslinse“) heißen könnte, [...] darf hoffen, einmal nicht nur als Verwerter, sondern als Verfasser erfaßt zu werden.“ Und „Paparazzis bei Gauck“ erfand etwas geschmeidiger Rolf Schneider in der Berliner Zeitung (17./18. Februar 1996), der sich in manchem Bericht nicht gerade als hehrer Autor gespiegelt sieht.

Chronistisch und erstaunlich emotionsgebremst untersucht Walther die „Durchdringung“ und Beeinflussung von Literaten mit offiziellen und verdeckten Methoden im Schriftstellerverband, im Verlagswesen mit seiner übergeordneten Zensurbehörde, im Büro für Urheberrechte, das den grenzüberschreitenden Manuskriptverkehr zu kontrollieren hatte, aber auch in der Akademie der Künste und im DDR-PEN.

Den instrumentalisierte die SED-Führung, indem sie willige Autoren in die Welt schickte, die die „Friedenspolitik der DDR“ propagierten und die Menschenrechtsverletzungen im Osten bagatellisierten. Im Auftrag des KGB und des MfS überwachten sie den internationalen PEN und versuchten, ihn zu beeinflussen. Mit ihren Berichten über den DDR- und den internationalen PEN zeichneten sich insbesondere Paul Wiens (IM „Dichter“), Hermann Kant (IM „Martin“), Peter Edel (IM „Thomas“) und Fritz Rudolf Fries (IM „Pedro Hagen“) aus.

Nach der vorgelegten Recherche umfaßte 1964 die relativ kleine, für Kirche, Kultur, Sport und „Politischen Untergrund“ zuständige HA XX des MfS eine Zahl von 166 hauptamtlichen Mitarbeitern in Berlin. Mitte der siebziger Jahre wurde die Literatur zu einem Schwerpunktbereich. 1972 waren in der zuständigen Abteilung 211 inoffizielle Mitarbeiter aktiv. Bis Ende 1975 sprang ihre Zahl auf 379, um bis 1989 mit 350 IMs relativ konstant zu bleiben. Auf den Bezirks- und Kreisebenen wirkten nochmals zirka 1.100 IMs. Damit gehörte der Literaturbereich mit statistisch 1,5 IMs auf jeden der knapp 1.000 DDR-Schriftsteller und Kandidaten zu den bestobservierten im Land. Im höchsten Schriftstellergremium, dem Verbandspräsidium, arbeiteten zwölf der neunzehn Mitglieder für das MfS.

In Berlin stieg die Zahl der in „Operativen Vorgängen“ mit dem Ziel der Disziplinierung, Zersetzung oder Einleitung strafjuristischer Maßnahmen „bearbeiteten“ Schriftsteller von 8 im Jahr 1974 auf 31 im Jahr 1976/77. Insgesamt wurden in der DDR bis 1989 mehr als 150 „Operative Vorgänge“ (OV) zu Autoren angelegt. Operativ bearbeitet oder einer „Operativen Personenkontrolle“ (OPK) unterzogen wurden auch zahlreiche westdeutsche Literaten.

Hans Magnus Enzensbergers Telefonate mit Uwe Johnson wurden mitgeschnitten. Heinrich Böll und Günter Grass fanden sich in Ost-Berlin minutiös überwacht. Westliche Informanten des MfS berichteten über den West-Berliner VS-Vorsitzenden Hannes Schwenger. „Feindliche“ Journalisten und Publizisten wie Karl Wilhelm Fricke (3.000 Aktenseiten), Karl Corino und Andreas W. Mytze finden heute stückweise Berichte und Strategien zu sich in IM- Akten wieder. Die eigentlichen Vorgänge, geführt in der Hauptabteilung Aufklärung unter Markus Wolf, gelten als vernichtet. Von besonderem Interesse waren beabsichtigte, ungenehmigte Veröffentlichungen kritischer DDR-Autoren in BRD-Verlagen. Der fleißige Sascha Anderson (IM „Peters“, „Fritz Müller“, „David Menzer“), schöpfte den Rotbuch Verlag ab. Siegfried Unseld, der Chef des Suhrkamp Verlages sollte auf dem Tummelplatz der DDR-Spitzel – auf der Frankfurter Buchmesse – durch den Leiter des Aufbau-Verlages Fritz Georg Voigt (IM „Kant“) als Abschöpfquelle erschlossen werden. Auf Klaus Wagenbach, mit Einreiseverbot in die DDR belegt, waren in West- Berlin gleich mehrere IMs angesetzt.

Innerhalb der DDR-Literaturszene belegt Joachim Walther anhand zahlreicher Fälle, mit welchen Methoden die Führungsoffiziere ihre „petzenden Poeten“ rekrutierten.

So überließen die Schriftsteller Professor Wieland Herzfelde und seine Frau den Genossen beflissen ein Zimmer als Beobachtungsstützpunkt und warnten sie vor der Neugier ihrer Reinigungskraft, eine Informantin, die beide Herzfelds für das MfS ausspähte.

Zu den Ausnahme-IMs gehörte der Lyriker Paul Wiens (1.723 Blatt Spitzelprosa), der „nahezu unbegrenzt international einsetzbar war und [...] auch an den KGB ausgeliehen wurde“. Mit dem Nimbus eines Mentors junger Autoren half er, Frank Wolf Matthies zu kriminalisieren. Ähnlich hochkarätig diente sich Jan Koplowitz (IM „Pollak“) dem MfS an. Er berichtete über Biermann, Heym, Kunert, über Erich Fried in London, horchte für den KGB in Moskau einen Professor über systemkritische jüdische Autoren aus. Er wähnte seine Akte vollständig vernichtet und verwahrte sich noch 1994 in seinem Buch „Bestattungskosten“ gegen die Beleidigung, als IM verdächtigt zu werden. Äußerst effektiv zog Sascha Anderson als neuer IM-Typus seine denunziatorische Spur durch die Subkultur in Dresden, Erfurt und Berlin. Seine kriminelle Energie, gepaart mit Lust am Spiel, öffnete dem mit einer falschen Biographie Versehenen nach seiner Übersiedlung 1986 in den Westen auch die Türen zu Wolf Biermann und Jürgen Fuchs.

Fast schon kurios mutet Heinz Kahlaus (IM „Hochschulz“) MfS- Episode an. Nach Nötigung zur Mitarbeit, unwilliger Berichterstattung und Entpflichtung 1964, verplapperte er sich in der Aufregung eines Verhörs durch den bundesdeutschen Verfassungsschutz. Er beichtete sein Malheur Hermann Kant und wurde „zu seinem Schutz“ von West-Reisen ausgeschlossen. Gabriele Eckart (IM „Hölderlin“), deren Vater für sie den Kontakt zum MfS knüpfte, weigerte sich, Sarah Kirsch zu bespitzeln und vertraute sich ihr an. Maja Wiens (IM „Marion“) löste ihre Verpflichtung, als sie Anschluß an die Bürgerbewegung fand und fand sich fortan, wie manch anderer Abtrünnige, in einem „Operativen Vorgang (OV „Traum“) wieder.

Neben all der Unmoral oder – manchmal zeitweiliger – Charakterschwäche, finden sich vielfach Zeugnisse des Widerstehens. So beim Leiter des Aufbau-Verlages Elmar Faber (OKP „Spieler“), bei Rainer Kirsch (OV „Lyrik“) oder Klaus Schlesinger (OV „Schreiberling“).

Als eine Berliner Autorengruppe um Schlesinger und Martin Stade (OV „Narr“) die Anthologie „Berliner Geschichten“ an der Zensur vorbei in der DDR veröffentlichen wollte, ließ sich selbst Erich Honecker über die Zersetzung der Gruppe berichten. Nach dem Erscheinen von Stephan Heyms (OV „Diversant“) „Collin“ lancierte das MfS einen im Neuen Deutschland propagandistisch nutzbaren Verriß in die KP-Zeitung Unsere Zeit. Während die Kriminalisierung bekannter Autoren, wie zum Beispiel die von Heym, sich eher negativ auswirkte, probte das MfS dieses Prinzip bei Nachwuchsautoren mit größerem Erfolg. Zwar mußten Frank Wolf Matthies (OV „Reptil“) und Lutz Rathenow (OV „Assistent“) 1980 nach Protesten wieder aus der U-Haft entlassen werden, doch Annegret Gollin (OV „Transit“) und Thomas Erwin wurden wegen ihrer literarischen Arbeiten zu einem Jahr beziehungsweise acht Monaten Haft verurteilt. Weitere Autoren, deren Profilierung als Schriftsteller in der DDR verhindert worden war, erlitten ähnliche Schicksale. So Alexander Richter für den Schmuggelversuch seines Manuskriptes, Gabriele Kachold-Stötzer (OV „Toxin“), Utz Rachowski, Axel Reitel und andere für die „Herstellung und Verbreitung von ,Hetzschriften in Versform‘“. Das war der Stasi-Terminus für Gedichte. Zu diesem Kapitel liegt noch manches in der Grauzone.

Subtil wirkte das MfS über den Leiter des Reclam-Verlages, Hans Marquardt (IM „Hans“) auf Franz Fühmann ein. Auftragsgemäß überzeugte die Stasi den Schriftsteller so lange, bis dessen Trakl- Essay von 280 auf 120 Seiten entschärft war. Das Instrumentarium der Staatssicherheit war weit gefächert. Es reichte vom Erzeugen von Neid und Mißgunst beim Gewähren resp. Nichtgewähren von West-Reisen oder Dauervisa bis zu Verunsicherungsmaßnahmen im „Operationsgebiet“ Bundesrepublik. Gegen Jürgen Fuchs (ZOV „Opponent“) zogen die Tschekisten die Register von nächtlichem Telefonterror über Lieferungen fingierter Bestellungen bis zum Anrücken von Katastrophendiensten, vorzugsweise nachts. Als 1986 vor Fuchs' Wohnung eine Autobombe explodierte, erkundigte sich ein in West-Berlin agierender IM kurz darauf bei Freunden über seine seelische Verfassung. Zufall?

Es gab weit mehr Scheußlichkeiten, als Joachim Walther in „Sicherungsbereich Literatur“ aufzeigt. Seine einmalig aufschlußreichen Forschungsergebnisse wollen die DDR-Literaturgeschichte nicht neu schreiben, dennoch liefern sie eine unglaubliche Materialfülle für eine Neubewertung. Diese wissenschaftliche Leistung läßt sich weder totloben noch ignorieren. Die Aufarbeitung zum Thema „Mielke und die Musen“ ist auch nach diesem Buch noch keineswegs beendet. Ganze Bereiche liegen noch im dunkeln der Gauck-Behörde. Man denke an die Jugend-IMs unter den Nachwuchsautoren. Bis hin zur Frage, wie wirkt der Pakt, der weder richtig ein- noch aufgelöst wurde, in ihnen heute psychisch nach. Auch Motivationen von Autoren, zum Beispiel jener aus dem bisher kaum recherchierten journalistischen Bereich, die sich seit den späten 80ern als Quereinsteiger profilierten, sind zu beachten. So trug der IM „Oertel“ (Reg.-Nr.: IX 194/75) entscheidend zur Verhaftung von Fluchthelfern bei. Mathias Wedel (IM „Milan“, Reg.-Nr.: XIIIV 1440/73) bespitzelte junge Schriftsteller und lieferte eine zynische Einschätzung seiner Rundfunkkollegin Barbara Große. Sie ging in den Knast und Wedel feiert heute antidemokratische Kommentare und Bücher ab.

Das Thema mit seinen vielfältigen Verzweigungen, auch hinein in die alte Bundesrepublik, wird noch Jahrzehnte in der Ost-West-Diskussion eine Rolle spielen. Joachim Walther hat bewundernswert sachlich eine wichtige Grundlage dafür geschaffen.

Joachim Walther: „Sicherungsbereich Literatur. Schriftsteller und Staatssicherheit in der Deutschen Demokratischen Republik“, Ch. Links Verlag, 888 Seiten, 68 DM

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen