piwik no script img

Peter Weiss' „Die Ermittlung“ verfilmtErschütternd direkt

RP Kahl verfilmt eindringlich „Die Ermittlung“ von Peter Weiss. Der Schriftsteller hat darin den Frankfurter Auschwitzprozess verarbeitet.

Zeuge 19 (Peter Lohmeyer) bei seiner Aussage im ersten Frankfurter Auschwitzprozess Foto: Leonine

Es klingt vielleicht paradox: Im Kino gilt ja angeblich die Devise: „Show, don’t tell!“, aber die Hauptrolle in RP Kahls „Die Ermittlung“ spielt die Sprache. Vor Ambivalenz schillernde Sätze wie „Soll ich jetzt dafür büßen, was ich damals tun musste? Alle anderen haben es auch getan!“ Oder völlig trockene wie „Ich war in die Materie nicht eingeweiht“. Oder tief erschütternde wie „Es war normal, dass um uns zu allen Seiten gestorben wurde“. Sätze, die für uns Nachgeborene so „typisch“ klingen, dass ihr Zusammenhang sich selbst denjenigen erschließt, die sich mit den Auschwitzprozessen nie befasst haben.

Peter Weiss hat sein Theaterstück, in dem er den vom Dezember 1963 bis August 1965 dauernden ersten Auschwitzprozess in Frankfurt am Main in der seinerzeit als hochmodern empfundenen Form des „dokumentarischen Theaters“ verarbeitete, noch vor der Urteilsverkündung abgeschlossen. Im Oktober 1965 erfuhr es seine Uraufführung an fünfzehn west- und ostdeutschen Theatern sowie der Royal Shakespeare Company in London.

Nicht, dass das Stück als solches seither in Vergessenheit geraten wäre, vielmehr ist es so fester Bestandteil der Erinnerungskultur geworden, dass weniger Neuinszenierungen stattfinden als „szenische Lesungen“ zu Gedenktagen abgehalten werden. Es gehört zu den Texten, von denen man glaubt, längst zu wissen, was drin steht. RP Kahls Verfilmung stellt „Die Ermittlung“ als Kinoversion nun in einen neuen Kontext und macht es dadurch möglich, den Text wie „neu“ zu hören, was zum Erlebnis wird.

Schläge in die Magengrube

Woran das liegt, ist gar nicht so einfach zu beschreiben. Der Begriff „filmische Installation“ trifft zwar die Herangehensweise der Inszenierung, denn Kahl hat in nur fünf Drehtagen im Studio Berlin-Adlershof vor reduziert eingerichteten Kulissen gedreht. Aber er drückt nicht aus, wie lebendig und fassbar der Text wird, wie bewegend das Spiel der insgesamt 60 Schauspieler und Schauspielerinnen ist und wie sehr der Film mitnimmt.

Letzteres im doppelten Sinn: Er schlägt die Zu­schaue­r:in­nen über die Länge von monströsen vier Stunden in den Bann und versetzt Schläge in die Magengrube, wieder und wieder. Bis zum Schluss, an dem erneut so ein schlagender Satz kommt: „Heute, da unsere Nation sich wieder zu einer führenden Stellung emporgearbeitet hat, sollten wir uns mit anderen Dingen befassen als mit Vorwürfen, die längst als verjährt angesehen werden müssten.“

Peter Weiss war selbst Zuschauer beim Prozess und verfasste seinen Text unter anderem mithilfe der Protokolle des Reporters der FAZ, Bernd Neumann, der seinerzeit für die Ausführlichkeit und Nüchternheit seiner Berichterstattung gelobt wurde. Wenn man das „Oratorium in 11 Gesängen“ untertitelte Stück nun vom großartigen Ensemble bei RP Kahl gesprochen hört, wird man kaum noch gewahr, dass es sich um eine verdichtete Kunstsprache handelt.

Wer real vergleichen möchte: Das Fritz Bauer Institut hat die vorhandenen Tonbandmitschnitte des Prozesses aufgearbeitet auf einer Website online zugänglich gemacht. Die Kunst liegt darin, wie scharf die von den Zeugen beschriebenen Verbrechen hervortreten und wie gestochen klar selbst noch die Ausflüchte der Angeklagten klingen: „Ich war in die Materie nicht eingeweiht.“

Die Unmenschlichkeit war gut organisiert

Die Inszenierung von RP Kahl stellt sich ganz in den Dienst des Textes. Das Setting ist reduziert, eine schwarze Bühne, drei Männer hinter Tischen, die Angeklagten in Stuhlreihen auf einem Podest, die wechselnden Zeugen treten aus der Tiefe des Raums nach vorn. Rainer Bock spielt den Richter, Clemens Schick den Ankläger und Bernhard Schütz den Verteidiger, sie befragen die Angeklagten und die Zeugen.

Es tritt eine Menge prominenter Schauspieler auf, man kann sie gar nicht alle aufzählen. Das Besondere ist, wie eindrücklich je­de*r einzelne spielt und wie sehr sie/er sich dabei einordnet in die Inszenierung, die ihre Wucht daraus generiert, dass das Dramatische des Textes konsequent unterspielt wird.

Der Film

„Die Ermittlung“. Regie: RP Kahl. Mit Rainer Bock, Clemens Schick u. a. Deutschland 2023, 240 Min.

Chronologisch arbeitet sich das Stück mit seinen in „Gesänge“ aufgeteilten Kapiteln dabei von der Aussortierung an der Rampe bis zu den Verbrennungsöfen vor, zugleich eine Art Ortsbegehung des Konzentrationslagers Auschwitz und eine Darstellung des Holocaust als solchem. Dabei ist das, was erzählt wird, nie metaphorisch, sondern immer erschütternd direkt. Von Anfang an, von den Vorgängen an der Rampe an, ist schon die Unmenschlichkeit ersichtlich, die so unfassbar erscheint, weil sie gleichzeitig so gut organisiert war.

Sie wollten nie etwas gewusst haben

Mit derselben Sorgfalt, mit der man Menschen „sortierte“, entzog man ihnen Nahrung, Wasser und sogar Luft, versuchte sie ihrer Würde zu berauben, indem man sie in zerrissene Kleidung steckte und ihnen körperliche Hygiene unmöglich machte. Hinzu kommen all die verschiedenen Todesarten: Verhungern, Erschießen, Erhängen, Erschlagen mit Folterinstrumenten, Verelendung in Stehzellen. Ein Einfallsreichtum, der einen an der Kreativität der Menschheit verzweifeln lässt.

Kahls Adaption bringt die Schilderungen der Zeugen auf organische Weise in einen Dialog mit der charakteristischen Abwehrhaltung der Angeklagten, die nie Bescheid gewusst haben wollen, ihre Unterschrift immer nur als stellvertretend und zufällig auf einem Vernichtungsbefehl wieder erkennen oder selbst darüber klagen, schwer gelitten zu haben.

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen

Mehr zum Thema

3 Kommentare

 / 
Kommentarpause ab 30. Dezember 2024

Wir machen Silvesterpause und schließen ab Montag die Kommentarfunktion für ein paar Tage.
  • Dass SS Zahnarzt Willi Schatz beim Auschwitz Prozess 1963 mit Schutzbehauptung durchkam, wonach er "Häftlinge, die für die Gaskammer ausgesucht" gewesen seien, "auf dem Weg in das Krematorium über eine gewisse Strecke hin mitfühlend begleitete" statt dass der Staatsanwalt aufhorchte, klärte, ob Schatz wirklich Drückeberger war oder da bei geschultem Zahnarzt Blick auf der Rampe selektierte, wer in Kolonne der Totgeweihten Zahngold im Mund haben könnte, ein privates Geschäft auf eigene oder auf Rechnung KZ Kommandanten Rudolf Hösch zu machen? Das Zahngold Totgeweihter sofort, oder Person beiseite befohlen herausbrach, Zahngold sicherte, bevor es später deren Leichen entrissen, in Tresoren Deutscher Reichsbank landete? „Das Gericht akzeptierte Aussage als Teil seiner Drückebergerei" Fritz Bauer trieb bei solchem Urteil Frage um, galt Mentalität im Gerichtssaal Arglosigkeit, Mangel an Fantasie oder steckte Muster dahinter, das Ausmaß Holocausts bis in deutschbesetzten Gebieten Europas vom Vichy Regime kontrollierten Maghreb, neutralem Spanien, wenn es um Ausbürgern, Vermögensentzug, Deportation jüdischer Mitbürger nach Auschwitz ging, durch verharmlosende Urteile Unruhen zu vermeiden

  • Die Biografien geben zusätzlich Aufschluss über die Ansammlung von eigentümlichen Charakteren in der Realität. Am Beispiel des Kommandanten Höß wird es klar:



    "Zusammengenommen zeichnen beide Bücher das Bild eines Mannes, der stets das Gefühl hatte, zu kurz gekommen zu sein, der sich als Befehlsempfänger das Denken und Fühlen verbietet – und eines Mannes, der bis zum Schluss stolz darauf war, die Vernichtung der europäischen Juden technisch und logistisch so gut bewältigt zu haben."



    Quelle deutschlandfunkkultur.de



    Das ist auf der Linie Eichmann u.v.m.

  • Gut, dass dieses Stück von Peter Weiss gerade heute wieder in Erinnerung gebracht wird.