Personalmangel in Hamburgs Jugendhilfe: „Nachtarbeit wird quasi als Ehrenamt betrachtet“
In Hamburgs Jugendwohngruppen ist meist eine Fachkraft allein mit bis zu zehn Kindern und Jugendlichen. Ein besonderes Problem sind die Nächte.
Die ist bei einer normalen Wohngruppe wahrlich nicht üppig. In der Regel gibt es dort acht bis zehn Plätze. Der Personalschlüssel sieht laut Mustervertrag für zehn Minderjährige etwa 5,78 Betreuerstellen vor, die aber eben an sieben Tagen über 24 Stunden die Aufsicht abdecken müssen und wegen Urlaub und Krankheit nicht jede Woche zur Verfügung stehen. „Das System ist finanziell auf Kante genäht. Die Arbeitsbedingungen sind nicht mehr zeitgemäß“, sagt AGFW-Sprecherin Sandra Berkling. So sei zum Beispiel pro Tag und Kind nur eine individuelle Betreuungszeit von 15 Minuten vorgesehen, und oft eine Fachkraft im Dienst „ganz auf sich allein gestellt“.
Ein besonderes Problem stellten dabei die Nächte dar. Zwischen 22 Uhr abends und sechs Uhr früh sollen die Betreuer in der Regel schlafen und nur in seltenen Notfällen eingreifen. Deshalb werde diese Zeit nur zu 25 Prozent bezahlt. „Die Realität sieht aber anders aus“, sagt Berkling. Gerade abends und nachts, wenn zum Beispiel die Angst bei traumatisierten Jugendlichen am größten sei und Krisen aufgefangen werden müssten, seien die Fachkräfte gefordert.
Die 30-Stunden-Woche dauert 42 Stunden
Erzieher Andres Pleess, der bei der „Wohngruppe Ponton“ des Trägers „Gangway“ auf einer 30-Stunden-Stelle arbeitet, kann das bestätigen. Die nächtliche Arbeit werde quasi als Ehrenamt angesehen. Seine Schicht beginnt dann um 18 Uhr und dauert bis morgens um 10.30 Uhr. So komme es, dass er, wenn er in der Woche zwei dieser Nachtschichten übernimmt, 42 Stunden arbeiten muss, darunter zwölf, für die er nicht bezahlt wird.
„So kann man Fachkräfte nicht halten“, mahnt Carolin Becker, Jugendreferentin beim Paritätischen Wohlfahrtverband. In der Pflege oder in Krankenhäusern gebe es das nicht. „Die Jugendhilfe ist der einzige Bereich, in dem Nachtschichten nicht refinanziert werden“, so Becker. Dadurch werde der Bereich so unattraktiv, dass Erzieher lieber woanders arbeiten. „Wir stellen heute Menschen ein, die hätten wir vor zehn Jahren nicht eingestellt.“
Als die Zahl der minderjährigen Geflüchteten beim KJND wieder stark anstieg, regte die Sozialbehörde an, die Träger sollten pro Wohngruppe für sie einen Platz zusätzlich schaffen. Doch das gehe eben nicht, wenn die Fachkräfte fehlten, sagt Becker. „Es gibt viele Träger, die besetzen weniger Plätze, um die gute Versorgung zu gewährleisten und ihre Fachkräfte zu halten.“
Der Träger „Gangway“ bietet drei intensivpädagogische Wohngruppen mit einem leicht besseren Schlüssel an. Er nimmt Jugendliche auf, die schon mehrere Einrichtungswechsel hinter sich haben, teils schon ein oder zwei Jahre nicht mehr zur Schule gehen und „das Vertrauen in die Erwachsenen verloren haben“, wie Leiter Lars Dierking berichtet. Der Schlüssel des Erfolgs sei Beziehungsarbeit, sagt er.
Die Nachfrage sei sehr hoch. „Im vergangen Jahr hatten wir 220 intensivpädagogische Anfragen, von denen wir 210 absagen mussten“, sagt Dierking. Doch auch dieser Träger hat es nicht leicht, Personal zu bekommen. Nach Einschätzung von Karen Polzin, Referentin für Jugendhilfe der Diakonie, hat sich der Fachkräftemangel spätestens in der Nach-Corona-Zeit deutlich verschärft.
Sozialbehörde prüft jetzt Zahlung der Nachtsdienste
Um das Problem zu lösen, dass es für Kinder in Notsituationen, die viel zu lange beim KJND bleiben müssen, keinen Platz gibt, wären nach Ansicht der AGFW Verbesserungen für die Regelwohngruppen angebracht. In jedem Fall wären eine Doppelbesetzung mit Fachkräften in den Gruppen wünschenswert, gleiche Betreuungsmaßstäbe für junge Volljährige und eben vollständig bezahlte Nachtschichten.
Gerade letzteres dürfte Geld kosten. „Die Forderung ist unpopulär“, sagt Carolin Becker. Aber es dürfe nicht sein, dass die Elbvertiefung wichtiger sei und die Jugendhilfe hinten runter fallen. „Kinder aller Altersgruppen brauchen eine verlässliche und qualitativ hochwertige Betreuung“, sagt Sandra Berkling. Da seien die im aktuellen Haushaltsetat der Stadt vorgesehenen Standards „völlig unzureichend“.
Die Hamburger Sozialbehörde erteilt der Forderung nach genereller Doppelbesetzung eine Abfuhr. Angesichts des hohen Bedarfs in Folge von Fluchtbewegungen der vergangenen Jahre und des sich gleichzeitig negativ auswirkenden Fachkräftemangels, liege die Priorität weiter bei „Erhöhung der Platzzahl“, so ihr Sprecher Wolfgang Arnhold. Eine bessere Betreuung von Kindern und Jugendlichen mit „komplexen Problemlagen“ habe die Behörde aber „fortlaufend im Blick“. Und eine vollständige Bezahlung der Nachtdienste, so der Sprecher, wird sogar „aktuell geprüft“.
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