Peggy Parnass über ihr Leben: „Die ganze Welt ist Krieg“

Peggy Parnass hat noch nie Konflikte gescheut: als große Schwester, Autorin, politische Stimme. Ein Gespräch über Rache, Freundschaft und das Alter.

Ist immer noch auf Demos zu finden: Peggy Parnass Foto: Miguel Ferraz

Peggy Parnass duzt jeden, deswegen ist auch dieses Interview in Du-Form gehalten. Vor dem Interview hat sie zwei Anliegen: dass der Fotograf nicht zu nah an sie herankommt und dass man das letzte Interview mit ihr, das vor zehn Jahren erschienen ist, mitbringt, „um zu sehen, was ich Dir damals erzählt habe“.

Peggy Parnass: Hast Du damals Reaktionen auf das Interview bekommen?

taz: Nein.

Das ist doch trostlos. Man schreibt doch nicht für sich.

Wenn drei Leute ihn gelesen und etwas behalten haben, kann das doch reichen.

Nee, das ist schön für die drei Leute, aber die andern drei Millionen?

Wie geht es Dir mit den Reaktionen auf Deine Texte?

Sie sind mir unglaublich wichtig, jedes Wort da drin ist mir wichtig. Ich war nie angestellt, wollte das auch nie anders, aber ich habe diejenigen beneidet, die miteinander arbeiten konnten. Ich habe meine Sachen immer im Alleingang gemacht.

Hattest Du nicht Leute, mit denen Du dich austauschen konntest, Peter Rühmkorf zum Beispiel, mit dem Du Theater gespielt hast?

Wir haben auch zusammen gewohnt – aber das war lange vorher. Da ging es nicht um meine Texte, sondern um seine. Es gab damals eine Theatergruppe an der Uni, da wollten Peter Rühmkorf und Klaus Rainer Röhl rein, aber da wurde gesagt: „Ja, das könnt ihr gern, aber nicht mit der.“ „Warum nicht?“ „Die ist Jüdin, mit der nicht.“ Es waren und sind ja noch nicht alle Nazis verschwunden. Und da haben wir eine eigene Theatergruppe an der Uni gegründet. Das ist ja ewig her, 1950. Die Texte von Rühmkorf sind leider nach wie vor aktuell. Die waren wunderbar. Antikriegstexte natürlich. Es war eine sehr, sehr gute Zeit, weil wir alle die Illusion hatten, die Welt verändern zu können.

ist Schauspielerin, Publizistin und Autorin in Hamburg. Schrieb 17 Jahre Gerichtsreportagen für die Zeitschrift Konkret. Daraus entstand das Buch „Prozesse“ (1992), ihre Autobiographie „Süchtig nach Leben“ erschien 1990 und ihre Kindheitserinnerungen „Kindheit: Wie unsere Mutter uns vor den Nazis rettete“ 2012.

Eine Illusion?

Ja leider. Absolut, das siehst Du doch. Wir hatten ja noch die Illusion, etwas verändern zu können. Solange wir das glaubten, war alles leicht. Jetzt ist es so wie das Nachspielen im Skat.

Aber Du gehst in Schulen, um die Geschichte Deiner Familie zu erzählen.

Neulich war ich auf einem Gymnasium mit dem neuen Film über mich, da warn ein paar Hundert Schülerinnen und Schüler, das war ganz toll. Sie wollten wissen, was ich glaubte, wie es wäre, wenn meine Eltern noch leben würden. Und da habe ich spontan gesagt, dass ich glaube, dass sie mit mir nicht einverstanden wären. Dass sie mich liebten, würde ich voraussetzen, aber immer Angst um mich haben würden: Sie würden sich fragen, was macht sie da, muss das denn sein, so viele Konflikte.

Was glaubst Du, was hätten sie gewollt, wie Du lebst?

Sie hätten sicher gewollt, dass ich einen Beruf habe, aber einer, der nicht weh tut, der nicht riskant ist, ein Beruf, der mich sehr gut ernährt.

Das sind sehr nahe Fragen der SchülerInnen.

Die wollen wirklich etwas wissen, das ist auch gut so. Aber es ist schmerzhaft. Als ich nach Deutschland zurückkam, wollte ich mich dringend rächen.

Ist das gelungen?

Nein. Ich wollte mich an der Waisenhausfrau in Stockholm rächen, bei der mein kleiner Bruder war und die eine Sadistin war. Ich durfte ihn nur alle zwei Wochen am Sonntag sehen, vorausgesetzt, dass sie mich reinließ. Ich bin immer in den vierten Stock raufgerast und da stand sie dann riesengroß und stumm und guckte böse auf mich und dann irgendwann, nach langer Zeit, hat sie immer das Gleiche gefragt: Was willst Du hier? Ich habe immer gesagt: „Ich will zu meinem Bruder.“ Und dann war diese lange, lange Pause und ich wusste nie: Sagt sie: „Komm rein“, oder sagte sie: „Geht nicht“. „Ja, warum nicht?“ „Er ist krank“ oder „Er ist nicht da.“ Aber ich konnte ihn ja sehen, klitzeklein hinter ihr, er hat geweint und meinen Namen gerufen. Und sie konnte dann entscheiden. Und dann haben wir uns aneinander geklammert und er hat mir alles anvertraut, was inzwischen gewesen war.

Aber Du konntest nicht helfen?

Nein. Es war furchtbar. Er bekam immer Schläge, für alles, was ich machte. Ich sagte, „wir müssen zu unserm Vormund“, das habe ich erfunden, damit ich ihn rauskriegte aus dem Kinderheim. Dann waren wir entweder Karussell fahren oder Kuchenessen. Wir waren auch im Freien tanzen zu einer Live-Band. Einmal gelang es mir, ihn rauszuholen und in einen Kinderfilm zu gehen, von Walt Disney, Schneewittchen. Aber wir sind immer aufgeflogen und Bübchen wurde immer verprügelt für das, was ich ausheckte. Ich bin dann nach dem Krieg zu ihr nach Stockholm gefahren.

Und dann?

Wir haben gar nichts gesagt. Sie sah elend aus, nicht mehr stark, nicht mehr gefährlich. Ich war jetzt überlegen. Und ich konnte nichts sagen. Es war das Gleiche bei der Milchfrau um die Ecke rum, die, als Mutti dorthin ging, um für uns Kinder Milch zu holen, sie verprügelt und rausgeschmissen hat. Und geschrien: „An Judenschweine verkaufe ich nicht.“ Da hatte ich mir auch geschworen: „Wenn ich groß bin, dann räche ich mich an ihr.“ Und als ich nach elf Jahren Pause wieder in Deutschland war, bin ich natürlich zu ihr hingegangen in den Milchladen und war sehr, sehr aufgeregt. Der Laden war gut besucht wie immer, ich habe mich an die Wand gelehnt und die ganze Zeit die Frau angeguckt, während sie die Leute bediente. Und sie fing auch an, mich anzusehen, und irgendwann waren keine Leute mehr da und da sagte sie: „Oh, deine liebe Mutter, diese liebe, liebe Frau, wie oft habe ich an sie gedacht“. Ich konnte kein Wort sagen, mir war nur schlecht.

Der Hass ist geblieben?

Oh ja. So und jetzt mag ich nicht mehr daran denken. Es fällt mir nicht leicht und jetzt habe ich die Schnauze voll.

Gab es irgendeine positive Wiederbegegnung nach dem Krieg?

Als wir wegmussten, haben die Nachbarn all unsere Sachen unter sich aufgeteilt. Als ich schon viele Jahre in Deutschland war, rief der Sohn von früheren Nachbarn an. Es war der Widerstandskämpfer Tönnies Hellmann, damals Hafenarbeiter. Seine Verwandten hatten ihn gefragt, ob er meinte, dass ich die Küchenleiter zurückhaben möchte, die bei ihnen auf dem Boden stand. Muttis Küchenleiter. Die wollte ich natürlich haben. Seitdem steht sie auf meinem Dachboden. Mein einziges Erbe, bis auf den schönen Namen Parnass.

Was Du zu Beginn sagtest, dass sich nichts ändert, geht mir nicht aus dem Kopf. Gab es ein bestimmtes Ereignis, das Dich das hat denken lassen?

Ich kann da nicht den Finger drauf legen. Ich weiß nur, dass bei den Veranstaltungen damals alle immer gerufen haben: „Nie wieder Krieg.“ Die ganze Welt ist Krieg. Wenn die sagen würden, wir wollen die Kriege beenden, wäre das ein Vorsatz, den man bejahen kann – aber nie wieder etwas, was permanent da ist? Da ist „nie wieder“ Quatsch.

Woran machst Du fest, dass sich nichts geändert hat?

Es haben sich Dinge geändert, Dinge, die nicht so schwierig waren, aber nichts Grundsätzliches. Ich habe mich immer für Schwule eingesetzt, und Schwule für mich, Gott sei Dank, ich war ja allein. Die ganzen Jahre, als sie wie Dreck behandelt wurden. Da glaube ich, haben wir schon einiges im Laufe der Zeit bewirkt. Als ich gelesen habe, dass Alice Schwarzer ihre Frau geheiratet hat, habe ich mir überlegt, ob ich sie anrufe und ihr gratuliere, ich fand das sehr gut. Obwohl ich, wenn ich eingeladen werde zu einer Hochzeit, immer schon die Scheidung voraussehe.

Warum?

Ich glaube mehr an Freundschaft. Und wenn eine Freundschaft enttäuscht wird, finde ich es noch schlimmer, als von einem Liebhaber betrogen zu werden.

Ist es Zufall, dass in Deinen Texten mehr männliche Freunde auftauchen?

Ich habe mich selbst als Junge empfunden, ich habe jahrelang die Anziehsachen meines Bruders getragen. Mädchen fand ich läppisch, nichtssagend. Pissnelken waren das für mich, die rumgekichert und kokettiert haben. Trotzdem wäre ich auch gerne hübsch gewesen. Meine Mutti, die so liebevoll war, sagte einmal, um mich zu trösten: „Du musst nicht traurig sein, dass du nicht hübsch bist, dafür bist du doch so klug.“

Hat Dich das getröstet?

Nö, natürlich nicht. Dass ich klug war, wusste ich selber, und dass ich nicht hübsch war, wusste ich auch. Und ich wusste immer, dass meine Attraktivität für Männer nicht darin bestand, dass ich hübsch bin, sondern dass ich denken kann.

Wann hat sich Dein Frauenbild geändert?

Als Frauen interessanter wurden, ich hätte beinahe gesagt, zu Menschen wurden. Frauen, die ich auf Demos getroffen habe, Frauen, die politisch engagiert waren. Da habe ich natürlich Frauen entdeckt, die ich wunderbar fand, mit denen ich wirklich befreundet bin.

Du hast in einem Interview einmal gesagt: „Ich will nicht nach meinem Alter gefragt werden, sondern nach dem, was mich gerade interessiert.“ Und trotzdem würde ich gern wissen, was sich für Dich mit dem Älterwerden verändert.

Ich will das Alter von anderen nie wissen, das interessiert mich gar nicht. Weil es Leute ja auch festnagelt in ein Zu-jung oder Zu-alt.

Macht Alter denn einen Unterschied?

Wenn ich höre, eine Frau ist 63, dann denke ich: „Mein Gott, ist die alt.“ Und dann: „Ach du Scheiße, ich selbst bin ja beinahe 30 Jahre älter.“ Der Unterschied ist, dass dann die Zeit begrenzt ist. Ich möchte gerne leben und leben und leben.

Wird der Körper im Alter ein neues Thema, weil beschwerlicher?

Ich habe in meinem Leben nie Sport getrieben, aber getanzt, die Nächte durch, die Tage durch. Ein wunderschöner Tänzer, Brasilianer, ist abgesprungen, als sie auf Tournee waren, um bei mir zu bleiben. Sexuell bestens, ansonsten ein Arschloch, aber wir haben immer getanzt, getanzt, getanzt. Das mache ich immer noch, aber mir ist im Liebesrausch der Lendenwirbel gebrochen worden. Seitdem kann ich ganz schlecht laufen.

Auf Demos gehst Du trotzdem.

Ich gehe nicht, ich fahre auf dem Wagen. Ich war bei der großen Demo wegen der Menschen im Mittelmeer, die man ertrinken lässt, statt sie zu retten, und dem Mädchen, das immerhin welche retten konnte. Aber daneben ertranken viele und keiner wollte sie an Land lassen. Schrecklich! Die Leute sagten: „So etwas hat man noch nie erlebt.“ Doch, hat man. Wir als Juden haben überall hingeschrieben, bitte lasst uns kommen, wir werden sonst ermordet, das wusste jedes Kind. Nein. Kein Land wollte uns haben. Die ganzen Juden, die ermordet wurden, könnten leben, wenn die Länder nicht dicht gemacht hätten. So neu ist das alles nicht. Aber es ist schön, wenn man überhaupt noch darauf reagiert.

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