Patentexperte über Zwangslizenzen bei Impfungen: „Erwartungen sind derzeit zu hoch“
Zwangslizenzen bei Impfstoffen könnten nur bedingt eine Lösung sein, sagt Patentexperte Paul Fehlner. Bei neuen Technologien würden sich die Unternehmen sperren.
taz: Herr Fehlner, Sie arbeiten seit Jahrzehnten in der Pharmabranche. Waren Sie überrascht, wie schnell ein Covid-Impfstoff verfügbar wurde?
Paul Fehlner: Ich war unglaublich überrascht. Besonders, dass die mRNA-Technologie als erste ins Ziel kam, auf deren Basis es noch kein zugelassenes Produkt gab.
Nun wird es wichtig sein, schnell zu impfen, aber die Vakzine sind derzeit noch knapp. Würde es helfen, die Unternehmen zu zwingen, anderen Herstellern Lizenzen zur Impfstoffherstellung zu geben?
Egal, ob Zwangslizenz oder freiwillige Lizenz, das Problem ist die Zeit. Die Arzneimittelbehörden prüfen bei neuen Herstellern ganz genau, ob sie die Richtlinien zur Qualitätssicherung der Produktionsabläufe einhalten. Es dauert nicht Wochen, sondern Monate oder noch länger, um sich da als Hersteller zu qualifizieren. Dazu kommt, dass man auf die Kooperation der Unternehmen angewiesen ist, die einen Impfstoff oder eine Therapie entwickelt haben. Sonst muss ein Lizenznehmer von Grund auf neu lernen, wie das Produkt am besten hergestellt wird.
Bei einer Zwangslizenzierung ihrer Technologien könnten also Unternehmen neuen Herstellern Steine in den Weg legen?
Ich würde es anders ausdrücken: Es könnte auch eine Art passiven Widerstand geben. Also Unternehmen, die einfach nicht freiwillig ihr internes Know-how für die Herstellung der Impfstoffe hergeben wollen.
leitete 2008 bis 2017 die Abteilung für geistiges Eigentum beim Pharmaunternehmen Novartis, heute arbeitet er in gleicher Position beim US-Biotech-Unternehmen Axcella und berät die WHO.
Man hätte also viel früher mit Verhandlungen darüber beginnen müssen, ob andere Impfstoffhersteller Lizenzen bekommen?
Es ist schwer, das jetzt noch zu bewerten. Pfizer hat riesige Herstellungskapazitäten und Moderna auch und sie haben auch hart daran gearbeitet, mit Partnern zu produzieren. Ganz ehrlich, die stellen schon verblüffend viel Impfstoff her für ein Produkt, das eben erst zugelassen wurde. Es ist einfach nicht realistisch, sofort eine Milliarde Impfdosen parat zu haben.
Stellen Sie sich mal vor, die hätten in noch mehr Produktionsanlagen investiert, bevor klar war, ob die Impfstoffe überhaupt wirken. Es wäre eine Kapazität gewesen, dezidiert für mRNA-Impfstoffe. Und dann wäre nur der Impfstoff von AstraZeneca wirksam gewesen, der ganz anders produziert wird. Das wusste vorher ja niemand. Wahrscheinlich sind die Erwartungen derzeit zu hoch: Viele denken, jetzt, wo die Vakzine zugelassen sind, muss es doch gleich Milliarden Impfdosen geben.
Aber könnte man denn die Kapazitäten in der zweiten Hälfte 2021 erhöhen, wenn jetzt andere Hersteller Lizenzen für die Impfstoffproduktion bekommen?
Ich glaube schon, ja. Es gäbe weltweit genug Produktionskapazitäten. Mit Technologietransfers könnten bis Mitte oder Ende 2021 mehr Produktionsstätten einsatzbereit sein. Wir haben ja bereits gesehen, dass indische Generika-Hersteller das Covid-Mittel Remdesivir in Lizenz produzieren. Aber mRNA-Impfstoffe sind deutlich komplizierter herzustellen.
Da können sie kaum einen Technologietransfer erzwingen, zumal die USA und die EU das nicht zulassen. Wir haben bei Covid schon gesehen, dass Unternehmen bereit sind, zu kooperieren. Das wollen wir nicht verspielen. Wir arbeiten mit der Weltgesundheitsorganisation deshalb mit Anreizen für spezifische Lizenzen. Weil viele Unternehmen fürchten, dass ihre Konkurrenten die von ihnen entwickelte Covid-Technologien später in anderen Produkten verwenden.
Wir reden derzeit darüber, Menschen zu retten und Volkswirtschaften vor dem Kollaps zu bewahren. Kann man sich da solche Debatten erlauben?
Das stimmt. Aber aus Sicht der Unternehmen sind sie selbst derzeit enorm kooperativ im Vergleich zum normalen Modus. Sicherlich hätten Regierungen und philanthropische Investoren da mehr fordern können, speziell da, wo mit öffentlichen Geldern die Risiken bei der Impfstoffentwicklung übernommen worden sind.
Werden wir 2021 sehen, dass Industrieländer ihre Bevölkerungen impfen und Entwicklungsländer kaum?
Das wird sich leider nicht vermeiden lassen. Es ist für Politiker*innen in den Industrieländern kaum denkbar, ihrer Bevölkerung zu sagen: Ihr müsst mit dem Impfen warten, bis wir alles global verteilt haben. Das ist einfach ein Dilemma.
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