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Als Corona kam, liefen die Proben schon seit Monaten Foto: Lino Mirgeler/dpa

Passionsfestspiele in OberammergauJesus ist Kontaktperson

Oberammergau ist berühmt für die Passionsfestspiele. 2020 wäre es wieder so weit gewesen, dann kam Corona. Jetzt wartet das Dorf auf die Auferstehung.

Von Fabian Thomas aus Oberammergau

E s ist Dezember, knapp vier Monate vor Ostern, und Jesus ist Kontaktperson. Er hat alle Termine diese Woche abgesagt, sogar den beim Zahnarzt. Unser Treffen hat er vergessen. Es fällt ihm erst wieder ein, als Franziska Seher von der Presseabteilung der Passionsspiele ihn anruft. Sie sagt: „Oh nein“, als sie hört, was passiert ist: Der Freund einer Freundin von Jesus ist infiziert.

Dann sagt sie ihm, dass er doch nur Kontaktperson zweiten Grades sei. Er darf, laut bayerischer Infektionsschutzordnung, heute kommen. Also kommt Jesus, mit Verspätung und FFP2-Maske. Wir setzen uns in die Kantine der Passionsfestspiele 2020, die jetzt Passionsfestspiele 2022 heißen, und reden über dieses beschissene zurückliegende Jahr.

„Ich bin aus der ganzen Situation sehr geschmeidig rausgekommen“, sagt Jesus und meint die Verschiebung der Spiele. Jesus, 24, heißt eigentlich Rochus Rückel. Er ist einer der beiden Hauptdarsteller der Passionsspiele Oberammergau. Rückel studiert Luft- und Raumfahrttechnik an der Hochschule München.

Da er für die Zeit der Spiele kein Wartesemester beantragt hatte, konnte er während des Lockdowns immerhin seine Bachelorarbeit schreiben. Viele seiner Mitspielerinnen und Mitspieler habe es schlechter getroffen, weil sie sich für die Passionsspiele ein halbes Jahr Urlaub genommen haben. „Die sind dann ein halbes Jahr rumgesessen“, sagt Rückel.

Das ganze Dorf, ein Theater

Drei Monate später, kurz vor Ostern, hat Rückel seinen Bachelor erfolgreich abgeschlossen. Persönlich treffen will er sich nicht mehr, er nimmt die dritte Welle sehr ernst. Rückel studiert jetzt im Master Fahrzeugtechnik und lebt weiterhin in Oberammergau – durch das Onlinestudium ist das kein Problem. Wenn er freihat, wandert er mit seinen Tourenskiern den Oberammergauer Hausberg Kolben hoch. Manchmal fallen ihm dann Sätze ein aus seiner Rolle als Jesus Christus. Etwa diesen hier: „Ihr sehnt euch nach den Schätzen der Erde. Schätze, die von Motten und Rost zerfressen werden. Ich sage euch: Sammelt euch Schätze im Himmel, denn wo dein Herz ist, da ist auch dein Schatz!“

Rückel spricht langsam und deutlich, wenn er das sagt – als stünde er auf der Bühne. Er hat sich entschieden, seine Jesus-Texte wieder zu lesen, seit dem letzten Frühjahr hat er sie nicht mehr angefasst. An den meisten Tagen ist er optimistisch, dass 2022 alles klappen wird. Manchmal grübelt er. Aber er tut so, als würde alles gut gehen.

Seit beinahe 400 Jahren finden in Oberammergau alle zehn Jahre die Passionsspiele statt. Ein Theaterstück über Jesus Christus, seine Leidensgeschichte, von seinem Einzug in Jerusalem, wie er auf einem Esel reitend freudig begrüßt wird, bis zu seiner Kreuzigung auf dem Berg Golgatha.

Zu den letzten Spielen 2010 kamen mehr als eine halbe Millionen Besucher aus der ganzen Welt. Die Spiele beginnen kurz nach Ostern: Von Mai bis Oktober führen die Oberammergauer an fünf Tagen pro Woche von 14.30 Uhr bis 22.30 Uhr ihr Stück auf, drei Stunden Pause inklusive, da können die Gäste gern ein paar Holzschnitzereien kaufen. Es dürfen nur Menschen mitspielen, die in Oberammergau geboren wurden oder seit mindestens 20 Jahren im Ort leben. Etwa 5.200 Einwohner hat das Dorf, mehr als 2.000 von ihnen machen bei der Passion mit. Alle zehn Jahre ist dieses Dorf ein Theater.

Als das Virus im März 2020 kam, war man schon fast zwei Jahre damit beschäftigt, Schauspieler zu casten, Bühnenbilder zu bauen, Kostüme zu schneidern und Zehntausende Tickets zu verkaufen. Seit Monaten probte man täglich, erst mit den Hauptdarstellern, dann mit der Gruppe, dem israelischem Volk. Es gab Stimmtraining, Rückel übte, wie es ist, gekreuzigt zu werden.

Am komischsten für ihn war dieser Punkt ganz oben, sagt er, wo das Kreuz aufgestellt ist und einrastet, und er dachte, dass es jeder Zeit nach vorne kippen wird. Am schönsten für ihn ist dagegen die Szene, in der Jesus ausrastet und die Händler aus dem Tempel vertreibt. An Fasching ermahnte Spielleiter Christian Stückl seine Spieler, dass sie nicht zu viel saufen sollten, im März fingen sie an, den Fotoband zu machen.

Sie hätten in der Kantine gesessen und auf das nächste Foto gewartet, erinnert sich Rückel. „Und dann hat’s geheißen, alle auf die Bühne, nicht nur die Fotodarsteller.“ Rückel ahnte schon, was kommen würde: Spielleiter Stückl bricht die Proben ab, wegen Corona. Zurück in der Garderobe zieht Rückel sein Jesus-Gewand aus. „Ich habe mir gedacht: Mal schauen, wann ich es wieder anziehen werde.“ Er würde recht behalten. Unter Tränen gab Spielleiter Stückl bekannt, dass die Passionsspiele 2020 ausfallen, das Landratsamt hat es so entschieden. Erst im Mai 2022 sollen sie nachgeholt werden. Das Ende der Spiele ist der Beginn einer Katastrophe für Oberammergau.

„Es war unvorstellbar, dass diese Spiele nicht stattfinden“, erinnert sich Thomas Gröner, der katholische Pfarrer von Oberammergau. „Wir haben keine Industrie, wir können kein Getreide anbauen, also leben wir von der Passion.“ Wer in der Nähe des Passionstheaters durch Oberammergau spaziert, der sieht vor allem zwei Arten von Gewerbe: Gastronomie und Holzschnitzereien. „Viele haben investiert und renoviert“, sagt Gröner. „Die sitzen auf Krediten.“ Im Rest von Deutschland verloren viele Geschäfte ein Jahr, in Oberammergau entging ihnen das Jahr, das Jahr der Spiele.

Pfarrer Thomas Gröner kniet nieder, als er die katholische Kirche betritt, seinen Arbeitsplatz seit sieben Jahren. Draußen ist die Sonne schon hinter den Alpen verschwunden, die Berge leuchten. Gröner zeigt auf einen Seitenaltar rechts im Kirchenschiff. Dort hängt ein Jesuskreuz. Das Kreuz ist etwa 100 Jahre älter als die Barockkirche, in der es steht.

Studiert Luft- und Raumfahrtechnik und spielt den Jesus: Rochus Röckel Foto: Ursula Düren

Vor diesem Kreuz nahm alles seinen Anfang. Alles, was in Oberammergau heute wichtig ist. Hier legten die Oberammergauer 1633 ein Gelübde ab, das die Geschichte des Dorfs für immer verändern sollte. Es war während des Dreißigjährigen Kriegs, in Bayern grassierte die Pest, der Schwarze Tod. Impfungen gab es damals genauso wenig wie Schulunterricht über Zoom.

Oberammergau war anfangs von der Pest verschont geblieben, es ging in eine Art Lockdown des 17. Jahrhunderts: Die Stadtgrenzen blieben zu. Doch dann kam ein Tagelöhner namens Kaspar Schisler nachts in das Dorf geschlichen, um mit seiner Familie die Kirchweih zu feiern. Kaspar Schisler brachte die Pest. „Schon am Montage nach der Kirchweih war er eine Leich. Von diesem Tag an bis 28. Oktober, Simon und Juda, sind hierauf 84 Personen dahier gestorben“, schreibt der katholische Pfarrer Joseph Alois Daisenberger, ein Vorgänger von Thomas Gröner, 1858 in seiner „Geschichte des Dorfes Oberammergau“.

Was dann geschah, ist, so glaubt Thomas Gröner, ein Wunder. Er kann es auch beweisen. Da gibt es die Pestmatrikel, die Totenbücher des 17. Jahrhunderts. Sie zeigen, dass es Dutzende Tote gab und dann: keine mehr. Das war nach einem Gelübde der Oberammergauer vor diesem Kreuz, das jetzt in dieser Kirche steht.

Die Oberammergauer gelobten Gott, alle zehn Jahre die Passion aufzuführen, wenn die Pest aufhört. Gröner sagt: „Da kann man sagen: Zufall. Ein religiöser Mensch wird das anders interpretieren.“ Das Gelübde legten die Oberammergauer 1633 ab, es war der Beginn der Passionfestspiele, die nur 1770, 1920 und 1940 ausfielen. Und jetzt wieder: wegen Corona, der Pest des 21. Jahrhunderts.

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Das, was die Oberammergauer immer gespielt haben, das ist jetzt zu ihrer Geschichte geworden, meint Gröner. Die Absage der Spiele, für Gröner war das wie der Karfreitag, als Jesus starb und es keine Hoffnung gab. „Die Jünger haben sich am Karfreitag auch nicht vorstellen können, das es weitergeht. Aber es ist gut weitergegangen. Gott hat eingegriffen, und das dürfen die Oberammergauer auch erleben.

Es wird die Spiele 2022 geben, und sie dürfen wieder spielen, und sie dürfen wieder leben.“ Es ist, als wäre Oberammergau nun selbst Teil einer Passion: Das Dorf wartet auf die eigene Auferstehung. Doch wenn Pfarrer Gröner an diesem Wochenende die Auferstehung Christi feiert, wird Oberammergau noch nicht auferstanden sein. So schnell wie 1633 scheint das Wunder diesmal nicht zu kommen. „Es ist ein Wunder“, sagt Gröner, „dass der Mensch es in einem Dreivierteljahr schafft, einen Impfstoff zu entwickeln. Das gehört berichtet, aber es geht unter.“

Christian Stückl raucht noch schneller, als er spricht. Der Spielleiter der Passionsfestspiele sitzt an einem langen Holztisch in seinem Atelier im hinteren Teil des Passionstheaters. 2020 wäre seine vierte Passion gewesen, 1986 übernahm er mit nur 24 Jahren das Amt des Spielleiters und damit die Verantwortung über einen Millionenbetrieb. „Meine Eltern haben gesagt, bist du wahnsinnig? Wenn das in die Hosen geht, können wir uns nicht mehr blicken lassen. Und ich hab gedacht: Das ist gar nicht so schwer“, erinnert sich Stückl.

Er schrieb den Text um, strich antisemitische Passagen, unterstützte das Spielrecht für unverheiratete Frauen und nicht katholische Oberammergauer. Für 2020 hatte er zum ersten Mal in der Geschichte der Spiele einen Muslim für eine Hauptrolle nominiert. Céngiz Görür sollte den Judas spielen. „Da gibt es Traditionalisten, die sagen, da macht man was kaputt. Es ist mir völlig egal, was jemand für einen Hintergrund hat, wenn jemand gut Theater spielen kann wie der Céngiz.“

Es wird seine vierte Passion: Spielleiter Christian Stückl Foto: Angelika Warmuth/dpa

Das Bühnenbild von 2020 bleibt, es wurde ja nie gezeigt. Bei den Texten ist Stückl sich noch nicht sicher. Im vergangenen Jahr wäre es um die sozialen Aspekte von Jesus’ Leben gegangen. Der Jesus, die auf die Kranken zugeht, die Huren, die Zöllner. Die sozialen Aspekte von Jesus’ Leben sind durch Corona eher relevanter geworden, glaubt Stückl: „Kein Mensch redet mehr über Flüchtlinge.“ Kein Mensch rede über Obdachlose.

Er fragt sich auch, wie es weitergeht mit den ganzen Verschwörungstheoretikern. „Ich glaube, ohne dass man’s merkt, kommt die Welt ganz schön ins Wanken durch dieses Corona.“ Neulich sagte ihm ein Bekannter, dass er ihn nicht mehr sehen wolle. Stückl sei unbelehrbar, so der Bekannte, weil er nicht sehe, dass Corona von der Politik gemacht ist. Stückl zieht an seiner Zigarette. Was für ein Jahr!

„Hauptsache, es wird a gscheite Passion“, sagt Stückl über das kommende Jahr. „Ich wünsch mir einfach, dass alles funktioniert.“ Und mit ihm hofft ganz Oberammergau. An dem Passionstheater hängen schon die neuen Plakate. Oben steht klein und in Schwarz: „Passionsfestspiele“, fett und in Rot steht „2022“ in der Mitte. Wie eine Erinnerung an alle, die ihr Herzblut in diese Spiele stecken, die von und mit diesen Spielen leben: Es geht weiter. Und sie dürfen wieder spielen, und sie dürfen wieder leben.

In den letzten Wochen hat Stückl bei den Spielerinnen und Spielern angefragt, ob sie im kommenden Jahr mitspielen werden. Er geht davon aus, dass er im Hauptdarstellerbereich keine Rollen neu besetzen muss, außer vielleicht einen jungen Apostel, der in den gehobenen Dienst der Polizei will und sich 2022 nicht mehr freinehmen kann.

Seit Aschermittwoch gilt in Oberammergau wieder der „Haar- und Barterlass“, er verpflichtet alle männlichen Mitspieler (mit Ausnahme der Römer-Darsteller) dazu, sich Haare und Bärte wachsen zu lassen. Die Spieler sollen ja auch aussehen wie echte Judäer. „Ich sehe schon wieder Bärtige im Dorf“, sagt Stückl.

Getrieben von Inzidenzen

Seine Schauspieler, die ja alle von hier kommen, findet Stückl oft mit einem „Castingblick“, mit dem er durch Oberammergau läuft. Vor vielen Jahren sollte Stückl in der Schule über die Passionsspiele reden. „Da saß ein junger Bua mit 13 und hat mir ein Loch in den Bauch gefragt“, erinnert sich Stückl. So lernte er Rochus Rückel kennen, den neuen Jesus.

Der Vorverkauf fürs nächste Jahr läuft gut, sagt Stückl. Und doch ist da diese Müdigkeit, dieses ewige Coronagefühl. Es hängt auch an Ostern wie eine dunkle Wolke über Oberammergau: Man hat die Dinge nicht in der Hand. Stückl fühlt sich getrieben von Inzidenzen, von der Politik, die Lockdowns verhängt und wieder absagt, von Ministerpräsidenten, die sich nicht einigen können, von Impfstoffen, die nicht kommen.

Wenn an Ostern 2022 immer noch Abstandsregeln gelten, wird es schwierig für die Spiele. „Bei 2.000 Schauspielern, wie sollst’ da Abstand halten?“, ruft Stückl. „Wenn das Impfen weiter so schwierig läuft, dann …“. Stückl hält inne. „Damit rechne ich jetzt einfach nicht“.

Bevor Jesus stirbt, hält er die Bergpredigt. Am Ende spricht er darüber, dass seine Anhänger sich nicht so viel Sorgen machen sollen. Dass seine Anhänger vertrauen können. Auf Gott. Auf das Leben. Jesus sagt: Trachtet zuerst nach dem Reich Gottes und nach seiner Gerechtigkeit, so wird euch das alles zufallen. Jesus sagt: Darum sorgt nicht für morgen, denn der morgige Tag wird für das Seine sorgen. Es ist genug, dass jeder Tag seine eigene Plage hat. In einigen Monaten beginnen dann die neuen Proben, und Rochus Röckel alias Jesus wird sich vorbereiten auf die Passionsspiele 2022. Auf die Wiederauferstehung. Auf seine, und die von Oberammergau.

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  • Vielen Dank für den interessanten Einblick in die bayerischen Alpen. Es gibt ein Leben außerhalb von Berlin. Gut zu wissen! Es ist auch schön, einen Beitrag zu lesen, in dem es um die katholische Kirche geht, ohne dass sexueller Missbrauch eine Rolle spielt.