Parodie auf den Literaturbetrieb: Alle sitzen im Glashaus
In dem Roman „Sister Europe“ von Nell Zink geht es um die Literaturszene und gegenwärtige Identitätsdebatten. Was alle Figuren eint, ist die Einsamkeit.

Die Ausgangslage wirkt nicht, als könnte sich Nells Zinks „Sister Europe“ zu einem der witzigsten Romane des Jahres entwickeln: Der Schriftsteller Masud, der als „literarische Stimme der nomadischen Hirten Arabiens gefeiert“ wird, soll mit einem nicht gerade hoch dotierten Preis ausgezeichnet werden, der alle drei Jahre von „einem der liberalen Emirate“ verliehen wird. Aus reiseorganisatorischen Gründen findet die Ehrung in Berlin statt, und zwar ausgerechnet im leicht angestaubten Hotel InterConti.
Zu der Veranstaltung in einem Saal, der im „aufgesetzt dezenten Nachkriegsstil“ gehalten ist, kommen Kulturfunktionäre, Politiker und Diplomaten, aber auch Freunde und Bekannte des Autors, etwa der Kunst- und Architekturkritiker Demian und seine 15-jährige trans Tochter Nicole.
Eingeladen ist auch Demians schöne, aber melancholische Freundin Livia sowie ein in die Jahre gekommener Bonvivant namens Toto, der inzwischen auf Tinder nach jungen Frauen sucht. Immer wieder erlebt er Überraschungen mit seinen Dates, zuletzt mit Avianca, weil sie seine erste Bekanntschaft ist, die „online ihr Alter hochgesetzt hatte“. Für Literatur interessiert sich Avianca nicht, trotzdem oder gerade deshalb wird sie Toto zur Preisverleihung begleiten.
Skurrile Zufallsgemeinschaft
Auf diese skurrile Zufallsgemeinschaft trifft auch Klaus, ein Zivilbeamter der Kriminalpolizei, der Kinderprostitution auf der Kurfürstenstraße aufdecken will und sich zum irren Stalker entwickelt. Nicole hält er für einen „minderjährigen Stricher in Highheels“, und kurioserweise sieht das Radi, ein echter Prinz, zunächst ganz ähnlich, was ihn aber nicht weiter stört: „Prostituierte waren eine schöne Ergänzung jeder Party, die diesen Namen verdiente.“
Nell Zink: „Sister Europe“. Aus dem Englischen von Tobias Schnettler. Rowohlt, Hamburg 2025, 272 Seiten, 24 Euro
Als Vertreter des Emirats soll er den Literaturpreis an Masud übergeben, aber viel lieber möchte er auf eine Party von schwulen Freunden in Friedrichshain gehen. Als er Nicole kennenlernt, beginnt Radi sofort zu flirten, auch wenn er „einen gewissen Widerwillen gegenüber hübschen, weißen Oberschichtjungs“ hegt, „die ihr Geschlecht wechselten“.
Nicole ist verwirrt vom royalen Lebemann, der das Misgendern nicht lassen kann, dessen Fingernägel aber lackiert sind, während ihre „kurz und ungepflegt“ aussehen. Zink spießt ein Rollenklischee nach dem anderen auf, beschädigt ihre Figuren aber nie. Sympathisch werden die Strauchelnden, wenn der emotionale Schutzpanzer bricht: „Aufs Neue brach ihre Hingabe an ihre komplizierte Identität in sich zusammen und zerfiel zu hilfloser Verliebtheit.“
Die Preisverleihung selbst wird schon bald zum kuriosen Nebenschauplatz. Während Masud sich in seiner Rolle als Preisträger gefällt, warten alle anderen aufs Essen: „Die Veranstaltung oszillierte zwischen hirntötender Langeweile und kompletter Unverständlichkeit und ging einfach nicht zu Ende.“ Am Buffet zeigt sich, dass der gepflegte Partytalk auch nicht viel besser ist als die Lobesreden: „Der Ministerialrat schwärmte vom ganz unbürokratischen Vergnügen, mit Goethe-Instituten in Diktaturen zu operieren.“
Bissig und genau beschrieben
Es ist schon erstaunlich, wie bissig und zugleich genau die US-Schriftstellerin Nell Zink den hiesigen Kulturbetrieb beschreibt. Tobias Schnettler weiß den schnoddrigen Ton der seit vielen Jahren in Brandenburg lebenden, aber konsequent auf Englisch schreibenden Autorin in seiner Übersetzung gut einzufangen; kleinere Ungenauigkeiten des Lektorats fallen nicht ins Gewicht.
Zink verbindet die unterschiedlichen Typen, indem sie aus auktorialer Perspektive erzählt, aber auch in die Charaktere hineinschlüpft, um deren ungeschönte Sichtweise auszubreiten. So darf Straßenbulle Klaus, der vom übrigen Personal regelmäßig als „pervers“ tituliert wird, auch über seine neuen Feinde herziehen: „Die Woken […] kontrollierten die Medien. Sie konnten dafür sorgen, dass er von heute auf morgen seinen Job verlor.“ Aus dem Buffo-Charakter wird damit ein Verschwörungsheini.
Was alle Figuren eint, ist ihre Einsamkeit. So bleiben sie zu ihrem eigenen Erstaunen auch nach der Preisverleihung zusammen, ziehen durchs nächtliche Berlin, spazieren am Rosa-Luxemburg-Denkmal im Tiergarten vorbei und hören nicht mehr auf zu reden. Mal trennen sich kleinere Gruppen, besuchen einen dreckigen Untergrund-Rave, finden aber auch im Fast-Food-Restaurant wieder zusammen. Ein Hauch Fellini durchweht die Szenen, während die schnellen Dialoge an amerikanische Screwball-Comedys erinnern, in der jedes Fettnäpfchen zum unterhaltsamen Gesprächsfutter wird. Doch bietet „Sister Europe“ nicht nur Slapstick und Satire, sondern auch literarische Tiefe.
Nell Zink setzt mit ihrem sechsten Roman konsequent ihr Werk fort. Sie erzählt von Hoch- und Indie-Kultur, verspottet und feiert sowohl althergebrachte als auch alternative Lebensformen, um schließlich mit unterhaltsamer Detailfülle politische Verwerfungen in den Blick zu nehmen. „Das Hohe Lied“, Zinks 500-Seiten-Epos, erzählt von einer Punk-Band, dem Terroranschlag vom 11. September 2001 und brüchigen Familienkonstellationen, um in einem historischen Bogen eine polarisierte US-Gesellschaft, die Schwäche der demokratischen Klasse und den ersten Wahlkampf Donald Trumps zu beschreiben.
Funkelnde Literatur
Nicht selten bezieht sich die in Tübingen promovierte Medienwissenschaftlerin in ihren Büchern auf klassische Topoi und Themen. In ihrem Roman „Avalon“ verbindet sie mittelalterliche Ritterromantik mit Adorno-Lektüren. Sie parodiert eingängige Identitätsmuster, wie etwa im Roman „Virginia“, der von den fundamentalen Widersprüchen bei Fragen der Hautfrage und sozialen Herkunft handelt.
Zinks funkelnde Literatur kommt weder dogmatisch noch belehrend daher; sie ist eine politische Humoristin, die Figuren mit oft antagonistischen Positionen aufeinanderprallen lässt und ihnen nicht zuletzt aus Gründen der erzählerischen Fallhöhe emotionale Irrfahrten zumutet. Wie kaum eine andere Schriftstellerin kann sie Peinlichkeiten beim Sex schildern, ohne dabei einen peinlichen Satz zu schreiben.
In „Sister Europe“ öffnet sich ein weiterer kultureller Echoraum: Nach antiker Mythologie war Europa eine phönizische Königstochter, in die sich Zeus verliebte. Der Göttervater verwandelte sich in einen Stier, um die Angebetete auf dem Rücken über das Meer nach Kreta zu (ent)führen. Dort nahm Zeus seine ursprüngliche Gestalt wieder an und zeugte mit ihr drei Kinder. In der neuen Heimat wird Europa zudem prophezeit, dass dieser Erdteil nach ihr benannt werde.
Es gibt bei Homer, Ovid, Horaz und vor allem später bei Nonnos von Panopolis unterschiedliche Varianten der Europa-Legende, was zu verschiedenen Lesarten und Interpretationen geführt hat. Die antiken Autoren schildern Zeus nicht durchweg als Lüstling und Frauenräuber; erst bei Nonnos im 5. Jahrhundert wird er als Ehebrecher beschrieben, dem die Rache der Gattin gewiss ist.
Fragile Geschlechterbeziehungen
Bei Nell Zink ist es nun ein arabischer Prinz, der ein Berliner Trans-Mädchen verführen möchte, allerdings scheitert und sich mit einer europäischen Grande Dame einlässt, ganz ohne Verwandlungskünste und Entführungsgewalt. Livia wohnt in einem düster-hellen Glashaus, das sie an die familiäre NS-Vergangenheit erinnern lässt. Im Glashaus aber sitzen fast alle Figuren in diesem Roman, doch statt mit Steinen zu schmeißen, machen sie sich auf den Weg, ändern sich und ihr Selbstbild, nicht zuletzt in den fragilen Geschlechterbeziehungen.
So lässt sich Zinks „Sister Europe“ neben dem aberwitzigen Identitätstheater auch als literarische Flaschenpost begreifen, die an den großen Bruder über dem Atlantik geschickt wird. Seht her, meine amerikanischen Landsleute, scheint Zink mit ihrem Roman zu sagen, im alten Europa geht vieles drunter und drüber, gibt es überspannte Debatten und bornierte Preisverleihungen, aber auch das Bemühen, Kulturkämpfe nicht mit moralinsauren Regeln und autoritären Maßgaben, sondern mit Argumenten, einem Augenzwinkern und einer Portion Gelassenheit zu überwinden.
Sprachliche Empfindlichkeiten ignoriert Nell Zink weitgehend. Manche Figurenrede ist dermaßen provokativ, dass es bei der Sensitivity-Kontrolle vermutlich strenge Ermahnungen gab. Das Ergebnis ist eine nachtschöne und geniale Persiflage auf den deutschen Literaturbetrieb, ein Abgesang auf europäische Differenzdiskurse und ein fast tänzerisches Kreisen um die Frage, wie man jenseits von kulturellen und sozialen Grenzen doch noch zusammenkommt.
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