Parlamentswahlen in Armenien: Haushoher Sieg für einen Helden
Nikol Paschinjan, Anführer der „Samtenen Revolution“, fährt 70 Prozent der Stimmen ein. Einige seiner Mitstreiter befürchten eine zu große Machtfülle.
Die Sicherheitsleute haben den hinteren Teil des Raumes geräumt, jetzt ist nur noch eine Frau im roten Mantel hier, ein dünner Typ neben ihm, der mit seinem Handy filmt und eben dieser Mann mit grauem Vollbart, der einen weißen Umschlag in eine Wahlurne wirft. Das ist Nikol Paschinjan, früher einmal Journalist, seit Mai Premierminister, und, so lässt sich das wohl sagen, ein Held.
Am nächsten Tag wird sein Mythos noch etwas wachsen, denn sein Parteienbündnis „Mein Schritt“ gewinnt die Parlamentswahlen in Armenien mit über 70 Prozent der Stimmen.
Im Frühjahr dieses Jahres demonstrierten in mehreren Städten des 2,5 Millionen-Einwohner-Landes Armenien Hunderttausende. Sie wollten den autokratischen Politiker Sersch Sargsjan loswerden, der das Land seit zehn Jahren beherrschte. Sargsjan war so lange Präsident, bis es laut Verfassung nicht mehr ging. Mit einem Trick wollte er dennoch an der Macht bleiben: Premierminister werden, aber die Machtbefugnisse des Präsidentenamtes mitnehmen.
Blumen für Polizisten
Die Bilder der Proteste damals hatten etwas Ikonisches, Kinder stellten Spielzeugautos und Bauklötze auf den Asphalt und blockierten so die Straßen der Hauptstadt Jerewan, junge Männer und Frauen schenkten Polizisten Blumen oder sangen für sie. So fröhlich das aussah, so effektiv war es auch. In Jerewan, der einzigen Großstadt des Landes, funktionierte de facto nichts mehr, die Regierung musste sich dem Druck der Straße beugen.
Der frühere Journalist Nikol Paschinjan wurde zum Anführer der Bewegung, dass ihn Sersch Sargsjan einen Tag ins Gefängnis stecken ließ, half ihm dabei. Am 8. Mai wurde Paschinjan vom Parlament zum Premierminister gewählt. Die Proteste gelten im Land heute weithin als „Samtene Revolution“, als Aufstand der Liebe, bei dem nicht einmal die Glasscheibe eines Geschäfts kaputtgegangen sei.
Paschinjan hatte etwas geschafft, was vielen im Land unmöglich erschien. Er hatte die Republikanische Partei herausgefordert, de facto eine Art Staatspartei, die seit 1999 in der Regierung saß und die ihre Macht über 20 Jahre lang bis in den letzten Winkel des Landes ausgedehnt hatte. Und er gewann.
Doch noch immer hatten die Republikaner im Parlament die meisten Sitze, bei den letzten Wahlen im April 2017 bekamen sie 49 Prozent der Stimmen. Allerdings mit unsauberen Mitteln. Vorgesetzte drohten Menschen im Staatsdienst mit dem Verlust ihres Jobs und der Arbeitsplätze ihrer Verwandten, wenn sie nicht für die Machthaber stimmen würden. So etwas macht Angst in einem Land, in dem etwa ein Drittel der Menschen unterhalb der Armutsgrenze lebt. Soldaten sollten die Republikanische Partei ebenfalls wählen. Oft seien Stimmen früher aber auch gekauft worden, erzählen Menschen in den Wahllokalen.
Hase und Wolf
Deshalb ist Vahan Vanyan, der Wahlbeobachter, heute morgen um 6 Uhr aufgestanden, hat sich ein paar Brote eingesteckt und ist mit dem Taxi hierher gefahren. Der 21-Jährige ist für eine Organisation hier, deren Name sich in etwa mit „Union informierter Bürger“ übersetzen lässt.
Seit kurz vor sieben steht er hier im Wahllokal, einem alten Kindergarten, an dessen Wand Hase und Wolf gemalt sind, die Figuren einer berühmten russischen Kinderserie. In den Gängen hängen Weihnachtsterne in Rot, Weiß und Gold. Bis nachts um zwei wird Vahan Vanyan wohl bleiben müssen, schätzt er, bis dahin haben sie die Stimmen wahrscheinlich ausgezählt.
Warum macht er das? 15.000 Dram zahlt ihm seine Organisation, sagt Vayan, das wären etwa 27 Euro. Nicht ganz schlecht bei einem Durchschnittslohn von 280 Euro. Aber als Programmierer von Webseiten könnte er das Geld auch anders verdienen. „Dieses Mal müssen die Wahlen gerecht ablaufen“, sagt Vayan, „deshalb habe ich mich gemeldet.“
In diesem Jahr hätten sie zum ersten Mal frei gewählt, das sagen hier alle. Eine Frau, die im Krankenhaus Ultraschallgeräte bedient und die sagt, beim letzten Mal habe ihr der Chef noch gedroht, sie solle auch ja den Richtigen ihre Stimme geben. Eine Bäckerin, die mit ihrer kleinen Tochter gekommen ist, ebenso ein Zöllner, mehrere Pensionäre.
So werden wie Nikol
Für den Machtwechsel und dafür, dass er auch noch gewaltfrei geschah, verehren Paschinjan viele Menschen. In den Schaufenstern mancher Bäckereien in Jerewan stehen Kuchen mit seinem Konterfei, Schülerinnen versichern, fleißig lernen zu wollen, um „so zu werden wie Nikol“. Auf Facebook schreibt ein Vater, er habe seine Tochter mit ins Wahllokal genommen und ihr erklärt, er wolle dem König des Lichts helfen, gegen den König der Finsternis zu gewinnen.
Paschinjan sagte zwar, er wolle keinen Persönlichkeitskult, aber unterbunden hat er dessen teils bizarre Auswüchse auch nicht wirklich. Denn de facto stellte die Zuneigung vieler Armenier bis zu den Wahlen seine einzige Machtbasis dar. Er verfügt nicht über die finanziellen Mittel der Oligarchen. Anders als Premierminister vor ihm hat er keinen militärischen Hintergrund und keinen besonderen Draht zur Armee. Und bis jetzt hatte die gegnerische Republikanische Partei eben noch die Mehrheit im Parlament.
Doch das hat ein Ende. Die Republikaner sind bei diesen Wahlen an der Fünfprozenthürde gescheitert. Von der alles beherrschenden Macht im Staat zur Nullnummer in nur wenigen Monaten. Wie kann das sein?
„Die Partei wurde von mehreren Gruppen unterstützt“, sagt der Armen Khachikyan. Der Soziologe, der an zwei Universitäten lehrt, sagt, die Anhängerschaft der Republikaner sei sehr divers gewesen: „Dazu gehörten die Vertretern der nationalkonservativen Ideologie, die Eliten, Männer, die sichergehen wollten, dass ihre Geschäfte nicht gefährdet werden, und die Menschen, die von der Partei profitieren wollten oder einfach keine Alternative gesehen haben.“ Von all diesen Gruppen seien de facto nur noch die Ideologen und ein paar Überzeugte übrig.
Das alleinige große Böse
Diese Pulverisierung der ehemaligen Staatspartei ist auch in Paschinjans Wahllokal und auf den Straßen zu spüren. Alle erzählen gerne, wie sich Freunde, Bekannte, Kollegen in der vorrevolutionären Zeit dazu zwingen ließen, für die Republikaner zu stimmen. Man selbst jedoch habe schon damals anders gewählt.
Dazu trage auch Paschinjans Rhetorik bei, sagt der Soziologe Khachikyan. „Er macht die Republikanische Partei für alles verantwortlich, er stellt sie als das alleinige große Böse dar.“ Das stünde allerdings im Widerspruch zu dem versöhnlichen Image, welches sich die Revolutionäre gegeben haben. Sie betonen bisher, niemand habe wegen seiner früheren Verbindungen zu den damals Mächtigen etwas zu befürchten, man wolle keine Rache. Khachikyan denkt, dass Nikol Paschinjan einen Feind gebrauchen kann.
Nicht alle im Parteienbündnis „Mein Schritt“ halten dieses Vorgehen für richtig. Diana Gasparjan, Bürgermeisterin von Armeniens viertgrößter Stadt Etschmiadsin und das erste weibliche Stadtoberhaupt des Landes, findet, es sei „nötig, der Opposition zuzuhören“. Sie hätte es vorgezogen, wenn das Wahlergebnis für die eigene Partei nicht so hoch ausgefallen wäre und die Republikaner im Parlament wären. Sie fürchtet die zu große Macht für „Mein Schritt“ und setzt eher auf Ausgleich.
Die bisherigen Erfolge der Revolution scheinen vor allem darin zu bestehen, dass viele versuchen, sich anders zu benehmen als in der alten Zeit. Polizisten fordern weniger Bestechungsgelder, Autofahrer halten sich mehr zurück, und alle sind freundlicher zueinander. Doch die großen Probleme des Landes sind nicht mit revolutionärer Euphorie zu lösen und die Popularität des Ministerpräsidenten könnte wieder sinken, wenn das auch seine Anhängerschaft merkt.
Niedrige Beteiligung
Ist die Wahlbeteiligung bereits ein Anzeichen dafür? Gerade einmal 49 Prozent der Wahlberechtigten haben dieses Mal ihrer Stimme abgegeben, damit ist die Beteiligung so niedrig wie noch nie bei einer Wahl. VertreterInnen von „Mein Schritt“ versuchen das zu erklären: Damit, dass es keinen Zwang gegeben habe und keine Geldgeschenke oder mit dem Regenwetter. Diana Gasparjan sagt: „Die Leute sind müde und erschöpft von der Revolution und der Zeit danach.“ Außerdem sei das Ergebnis in allen Umfragen klar gewesen. „Die Wähler dachten vielleicht, dass ihre Stimme nicht zählt“, sagt Gasparjan weiter.
Fünf Minuten nachdem Nikol Paschinjan mit Frau und Töchtern in einer Kolonne großer schwarzer Autos davongefahren ist, sitzt Vahan Vanyan auf einem Holzstuhl vor einem aufgeschlagenen weißen Heft. In das soll er reinschreiben, was ihm an Verstößen oder Betrügereien auffällt. Er macht zwei Haken. Jemand hat sich mit einem anderen Dokument ausgewiesen als seinem Pass. Ein anderer war hier nicht als Wähler registriert und musste wieder nach Hause gehen. Sonst keine weiteren Vorkommnisse.
Offenlegung: Die Reise nach Armenien wurde von der Organisation EU Friends of Armenia bezahlt
Links lesen, Rechts bekämpfen
Gerade jetzt, wo der Rechtsextremismus weiter erstarkt, braucht es Zusammenhalt und Solidarität. Auch und vor allem mit den Menschen, die sich vor Ort für eine starke Zivilgesellschaft einsetzen. Die taz kooperiert deshalb mit Polylux. Das Netzwerk engagiert sich seit 2018 gegen den Rechtsruck in Ostdeutschland und unterstützt Projekte, die sich für Demokratie und Toleranz einsetzen. Eine offene Gesellschaft braucht guten, frei zugänglichen Journalismus – und zivilgesellschaftliches Engagement. Finden Sie auch? Dann machen Sie mit und unterstützen Sie unsere Aktion. Noch bis zum 31. Oktober gehen 50 Prozent aller Einnahmen aus den Anmeldungen bei taz zahl ich an das Netzwerk gegen Rechts. In Zeiten wie diesen brauchen alle, die für eine offene Gesellschaft eintreten, unsere Unterstützung. Sind Sie dabei? Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Krise bei VW
Massiver Gewinneinbruch bei Volkswagen
VW-Vorstand droht mit Werksschließungen
Musterknabe der Unsozialen Marktwirtschaft
Verfassungsgericht entscheidet
Kein persönlicher Anspruch auf höheres Bafög
Kamala Harris’ „Abschlussplädoyer“
Ihr bestes Argument
Zu viel Methan in der Atmosphäre
Rätsel um gefährliches Klimagas gelöst
Nahostkonflikt in der Literatur
Literarischer Israel-Boykott