Parlamentswahl in Frankreich: Wie, Wahl?
Im französischen Präsidialsystem haben die Abgeordneten meist wenig zu sagen. Dennoch sind die Sitze in der Nationalversammlung begehrt.
Auf einem in den Tageszeitungen meist auf der letzten Seite vier Tage vor dem Wahlsonntag publizierten ganzseitigen Comic wird in Sprechblasen auf die zentrale Frage geantwortet: „Wozu wählt man 577 Abgeordnete?“
Es folgt ein Staatskundeunterricht im Eilverfahren: 577 Sitze in der Nationalversammlung sind zu vergeben, weil es in Frankreich 577 Wahlkreise gibt, und in jedem ist – nach einem strikten Mehrheitswahlrecht – ein Sitz zu gewinnen. Es gibt keinen Trostpreis, keine Restmandate oder andere Formen der Verteilung von Sitzen nach Stimmenanteilen der Parteien, sondern einen Sitz für einen Gewinner oder eine Gewinnerin.
Pro Wahlkreis geht leer aus, wer nicht im ersten oder zweiten Wahlgang siegt. Und in der Folge ist es nicht die Partei, welche die Wahlen gewinnt, die den Premierminister oder die Premierministerin stellt, sondern es ist der Präsident oder die Präsidentin, der ihn oder sie nach eigenen Kriterien nominiert. Abgeordnete oder sonst gewählte Volksvertreter*innen müssen weder die Regierungschef*innen noch die Minister*innen sein. Immer häufiger werden sie ohne parlamentarische Erfahrung als politische Amateur*innen aufgrund universitärer Laufbahn oder beruflicher Erfahrungen ernannt.
Dieser Text stammt aus der taz am wochenende. Immer ab Samstag am Kiosk, im eKiosk oder gleich im Wochenendabo. Und bei Facebook und Twitter.
In Stichworten werden im Comic des Innenministeriums die Aufgaben und Zuständigkeiten der Abgeordneten aufgelistet: Sie sitzen und debattieren in der Nationalversammlung, sie stimmen über Gesetzestexte ab, können selber Gesetzesvorschläge oder Änderungen an Vorlagen einbringen, sie stimmen namentlich über den Staatshaushalt ab und beaufsichtigen die Tätigkeit der Regierung, die vor den beiden Parlamentskammern, der Nationalversammlung und dem Senat, verantwortlich ist und regelmäßig bei einer Sprechstunde auf die Fragen der Abgeordneten antworten muss. Wie die Institutionen zusammenarbeiten, wie sie sich gegenseitig beaufsichtigen, illustriert wiederum ein besonders kompliziert aussehendes Schema mit unzähligen bunten Pfeilen auf Wikipedia.
Die Macht des Parlaments in Frankreich ist seit 1958 beschränkt. Die Verfassung der Fünften Republik stärkt sehr einseitig die staatliche Exekutive und vor allem die Macht des vom Volk gewählten Staatsoberhaupts. Der oder die Staatspräsident*in muss es dank dieser Verfassung mit der Gewaltentrennung nicht so genau nehmen. Er oder sie steht zugleich an der Spitze der Exekutive und der Streitkräfte, beaufsichtigt die Justiz, ernennt aber auch den oder die Regierungschef*in und die Minister*innen, kann diese auch absetzen oder das Parlament auflösen, um so bei Bedarf mit Neuwahlen die Karten neu zu mischen.
Die Abgeordneten dagegen sind und waren vor allem in den letzten Jahren der ersten Amtszeit von Emmanuel Macron nur dazu da, die im Ministerrat unter Vorsitz des Präsidenten bereits vordiskutierten und vorentschiedenen Gesetzesvorlagen durchzuwinken. Der Senat, in dem derzeit noch bürgerliche Konservative eine Mehrheit haben, kann die Prozedur der Gesetzgebung allenfalls bremsen.
Um ihre Unzufriedenheit zum Ausdruck zu bringen, haben die Abgeordneten jedoch andere Mittel gefunden. Wenn ein*e Minister*in vor der Ratsversammlung die eigene Politik gegen die Kritik verteidigt, ist sie oder er wegen ständiger Zwischenrufe oft kaum zu verstehen. Und umgekehrt schämen sich die Vertreter*innen der Regierungsmehrheit nicht, in derselben, manchmal unflätigen Manier lautstark während Reden der Opposition zurückzupoltern.
Die vom öffentlich-rechtlichen Fernsehsender LCP (La Chaîne Parlementaire) übertragenen Debatten in der Nationalversammlung bekommen so manchmal einen echten Unterhaltungswert bei einem sonst eher trockenen Programm. Es gibt immer wieder Witzbolde unter den Politiker*innen, wenn sich ihrer Meinung nach ein Thema für rhetorische Anspielungen anbietet, wie kürzlich etwa bei einer Debatte über die Luftverschmutzung und Klimaerwärmung durch die Fürze der Kühe.
Ein Spezialist der von Lachsalven begleiteten Unterbrechungen war in den letzten drei Amtszeiten der Abgeordnete (und kürzliche Präsidentschaftskandidat) Jean Lassalle aus den Pyrenäen. Dessen Auftritte zirkulieren wie Sketche eines Humoristen auf Youtube. Einmal überraschte er im Halbrund des Ratsaals seine halb eingenickten Kolleg*innen, indem er aufstand und ohne Vorwarnung dröhnend ein Schäferlied im Dialekt seiner Region anstimmte.
Manchmal sind die höhnisch gemeinten Zwischenrufe überhaupt nicht humorvoll, gelegentlich geht das Zischen und Buhen im Chor eindeutig zu weit, dann muss der oder die Vorsitzende der Nationalversammlung energisch auf das Pult klopfen. Meist völlig vergeblich bittet die Person um Ruhe oder um ein Minimum an Anstand, wenn beispielsweise sonst seriös wirkende Herren in Anzug und Krawatte bei der Ansprache eines gegnerischen Ratsmitglieds wie Schafe blöken oder – mit Vorliebe, wenn eine Frau spricht – gackern wie Hühner.
Die Zeiten, als eine Ministerin Bemerkungen oder Pfiffe wegen eines scheinbar kurzen Rocks erntete, sind wenigstens vorbei. Denn die #MeToo-Kampagnen haben auch die Parlamentspolitik erreicht. In Frankreich ist die zum Teil noch bis heute eine Männerdomäne, in der sexistische Witze oder Anspielungen seit jeher wie ein Kavaliersdelikt toleriert wurden. Die Aufsichtsstelle für Geschlechtergleichstellung hat nun 2020 in einem Bericht den Sexismus im Ratssaal kritisiert und die Betroffenen aufgefordert, Beschwerden beim Aufsichtsrat einzureichen.
Gesprächsstoff bieten auch die „Privilegien“ der Volksvertreter*innen. In der aktuellen Nationalversammlung bezeichneten sich gerade einmal 2 als ehemalige Arbeiter und 24 von 577 als Angestellte. Das Netto-Monatsgehalt beträgt derzeit 5.680 Euro. Hinzu kommt eine pauschale Entschädigung der Spesen in Höhe von 5.373 Euro, über die grundsätzlich frei verfügt werden kann, sofern die Ausgaben im Zusammenhang mit der beruflichen Tätigkeit stehen.
Vor einem Monat wurde ein Spesen-Skandal um die 39-jährige En-marche-Abgeordnete Coralie Dubost publik. Der Vorwurf: Sie habe mit ihrer Spesenpauschale mehr als 8.000 Euro für Unterwäsche ausgegeben, was ihr als private Ausgabe ausgelegt wurde. Dubost reichte daraufhin ihren Rücktritt ein und kehrte der Politik den Rücken zu.
Immer wieder gab es zudem handfeste Finanzaffären wegen der Anstellung der parlamentarischen Assistent*innen, für deren Gehälter jede*r Abgeordnete monatlich über 10.581 Euro bekommt. Der ehemalige Premierminister François Fillon wurde in exemplarischer Weise zu einer Haftstrafe auf Bewährung verurteilt, weil er als Abgeordneter viele Jahre seine eigene Gattin Penelope als angebliche Assistentin bezahlt hat, die dann nicht in der Lage war, vor Gericht Belege für eine reelle Arbeit zu liefern.
Die zukünftigen Mitglieder der Nationalversammlung, die wegen allfälliger Interessenkonflikte auch ihr Vermögen, ihre Beteiligungen und Investitionen offenlegen müssen, sind spätestens seit diesem „Penelope-Gate“ gewarnt: ihr Portefeuille wird unter die Lupe genommen.
Ausgelassene Eintracht zwischen Links und Rechts
Jede Sitzung beginnt und endet meistens in der „Buvette“ im Palais Bourbon. Dieses prächtige Bistro im Art-nouveau-Stil mit Gartenterrasse ist von den Medien und Besucher*innen abgeschirmt im neoklassischen Bau versteckt. In diesem Café nämlich herrscht eine ausgelassene Eintracht, wo linke und rechte Politiker*innen bei einem Glas Wein fraternisieren, als ob sie sich nicht Minuten zuvor noch im Ratssaal beschimpft hätten.
Niemand außer den 577 Abgeordneten hat hier Zutritt, selbst ihre Assistent*innen werden höflich, aber bestimmt vom Chef de service als persona non grata abgewiesen. Denn hier wird französische Geschichte gemacht: 1950 gab in der Buvette der Ex-Priester und Widerstandskämpfer Félix Kir als Abgeordneter aus Dijon seinen Namen dem heute berühmten Cocktail aus Cassislikör und Weißwein. Wer wagt da noch zu behaupten, Frankreichs Abgeordnete seien bedeutungslos?
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Stockender Absatz von E-Autos
Woran liegt es?
Erfolg gegen Eigenbedarfskündigungen
Gericht ebnet neue Wege für Mieter, sich zu wehren
Wahlprogramm der FDP
Alles lässt sich ändern – außer der Schuldenbremse
Tod des Fahrradaktivisten Natenom
Öffentliche Verhandlung vor Gericht entfällt
Energiewende in Deutschland
Erneuerbare erreichen Rekord-Anteil
Migration auf dem Ärmelkanal
Effizienz mit Todesfolge